„Evidenz und Faktur. Zur ästhetischen Sinnproduktion im künstlerischen Werkprozess“

Workshop der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik mit William Kentridge (Johannesburg).

Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz, FU Berlin, 22.10.2013, 17-20 Uhr

Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 23.10.2013, 10-12 Uhr

Der zweitägige Workshop mit dem südafrikanischen Künstler William Kentridge diente der Vorbereitung eines Ausstellungs- und Forschungsprojektes, das die Kolleg-Forschergruppe in Kooperation mit dem Künstler und dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin plant. In seinem Vortrag, der immer wieder in das Format der Lecture-Performance wechselte und dabei die Inszenierung der eigenen Person mit akademischen Präsentationsmethoden vermischte, reflektierte William Kentridge auf seine „studio practice“, um Prozesse der Formfindung und Bedeutungsproduktion im Medium der animierten Zeichnung vor der Folie der für sein Œuvre charakteristischen Verschränkung der klassischen Tradition der europäischen Aufklärung und ästhetischen Moderne mit der partikularen politischen Geschichte Südafrikas und seiner performativen Künstlerpersona vorzustellen. Neben dem wiederkehrenden Motiv des Dürer’schen Rhinozeros‘ diente dabei die Frage nach dem Wechselverhältnis von Formsehen, Bildgedächtnis und ikonischer Evidenz als Leitfaden. So führte Kentridge das Atelier nicht nur als realen, sondern metaphorischen Produktionsort ein, der – in Analogie zur Konstitution des Selbst, das trotz des Einflusses widersprüchlicher Faktoren auf einer subjektiven Wahrnehmung von Kohärenz angewiesen ist – primär dazu diene, in einem physischen Prozess der Herstellung aus einer vielteiligen Assemblage von Fragmenten ein sinnhaltiges Narrativ zu gewinnen. Dem Akt der Produktion gehe stets eine Phase des Aufschubs und der Verzögerung voraus, der aber integraler Bestandteil der Werkgenese sei.

Dem Studio komme dabei zum einen die Funktion eines „vergrößerten Kopfes“ zu, der alle perzeptiven Fragmente zusammenhalte und zum anderen den Aktionsraum einer Praxis des peripheren Denkens biete. Seine Zeichnungen seien daher als Resultate der Verhandlung gegebener Elemente zu begreifen, d. h. sie sind ebenso durchsetzt von Referenzen, Informationen, persönlichen Dispositionen und Kontingenzen wie von den konkreten Umständen der Ateliersituation. Kentridge betonte, dass die Arbeit im Atelier für ihn vornehmlich von der Frage getragen sei, inwiefern aus den von ihm geschaffenen bzw. anverwandelten Formen und evozierten Begriffen eine Bedeutung konstruiert werden kann. Den Blick auf das eigene Bildermachen im Modus der Nachträglichkeit, mit dem der Prozess der Werkgenese weitergetrieben wird, bringt Kentridge mit der Formulierung auf den Punkt, dass das Bild  den Produzenden auf halbem Wege treffe. Das Studio werde zur Membran, durch welche die Rekonstruktion der Welt in einem Prozess der andauernden Bedeutungsgenerierung in die Produktion eingehe.

Anhand einer neueren Sequenz von Tuschzeichnungen, die er auf (Doppel-)Seiten von Enzyklopädien des 19. und 20. Jahrhundert aufbringt, verdeutlicht er Prinzip und Bewegung eines solchermaßen zwischen den Polen der genuinen Produktion und nachträglichen Rezeption oszillierenden Prozesses im Atelier. Die Überlegung, dass ihn das Bild auf halbem Wege trifft, leitet sich Kentridge zufolge auch aus der Erkenntnis ab, dass das Material eines Bildes, die Darstellungsformen und –techniken, Gattungszugehörigkeit und Medialität etc. über jeweils eigene Bedeutungen verfügen, die sich wie eine präexistente Matrix in die Sinnerzeugung beim Werkprozess einfügen. Als dritte Kategorie der Sinnstiftung führt er schließlich den Betrachter ein und fragt, inwiefern Bedeutung tatsächlich in einem Werk enthalten ist oder vielmehr durch den Betrachter gestiftet wird, etwa wenn die Buchseiten als Träger seiner Zeichnungen einen ständigen Wechsel von Lesen und Sehen initiieren. Am Beispiel einer Filmsequenz aus den Norton Lectures, in der Kentridge im Atelier dabei zu sehen ist, wie er ein Rhinoceros nach Dürer zeichnet und dabei von seinem eigenen weiter entfernt stehenden Doppelgänger fortwährend kritisiert wird, stellte er das Wechselspiel zwischen Produktion und Rezeption in der Werkgenese vor, in der er selbst in die Positionen von Nähe und Distanz, Machen und Sehen, Künstler und Betrachter aufgespalten erscheint.

Dürers Rhinoceros von 1515 ist ein wiederkehrendes Motivs in Kentridges Werk und steht emblematisch für die Widersprüche der südafrikanischen Gesellschaft ein. Es handelt sich also nicht um eine bloß formale Übernahme eines kanonischen Bildes der abendländischen Kunstgeschichte, sondern um dessen Recodierung und Interpretation. Erstens steht es für die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Industrialisierung als (missglückter) Domestizierung des Wilden durch vermeintlich aufgeklärte Gesellschaften. Zum anderen geht es Kentridge um die Spannung zwischen Anthropomorphismus des Nashorns als vertrautem Lebewesen und seiner absoluten Alterität qua Anatomie und Kreatürlichkeit. In diesen semantischen, theoretischen und historischen Facetten fand es Eingang in zahlreiche Projekte von Kentridge, zuletzt in seine Ausstellung Black Box/Chambre noir (2005), in der das Rhinozeros in historischen Filmausschnitten von Großwildjägern als Trophäe zur Schau gestellt wird und damit nicht als Reverenz an die Kunstgeschichte figuiert, sondern zum Movens einer postkolonialen Kritik avanciert.

In der anschließenden Diskussion stand neben der Frage nach den Selbstporträts des Künstlers und seiner Inszenierung des Ateliers auch die ephemere Exploration von potentiellen Ähnlichkeiten im Mittelpunkt. Desweiteren wurde auf die Rolle des Freudschen Missverständnisses in Bezug auf Sinn- und Evidenzproduktion Bezug genommen. So wurde diskuiert, ob Kentridge nicht selbst mit einem doppelten Begriff der bildlichen Evidenz operiere, in dem er analog zu der für die „BildEvidenz“ fundamentalen Dialektik von Präsenz und Repräsentation das Wechselspiel zwischen Objekt und Betrachter beschreibe, nämlich als Spannung zwischen der Projektion auf das Bild und der Adressierung durch das Bild.

 

Der zweite Teil im Kupferstichkabinett bot die Gelegenheit, Techniken und ästhetische Strategien Dürers, der in einem höchst folgenreichen künstlerischen Prozess die Gattung der Druckgraphik zum autonomen Bild hin entwickelt hatte, mit William Kentridges genuiner Ästhetik des Schwarz-Weiß zu vergleichen und zu diskutieren. Wiederkehrende Themen der gemeinsamen Betrachtung von ausgewählten Blättern der Apokalypse von 1498 waren dabei neben technischen Aspekten der Ausführung und Fixierung von Zeichnungen die Frage nach dem Verhältnis zwischen materieller Faktur und Imagination sowie die Dürer’sche Tendenz zur Abstraktion durch intensiven Einsatz des graphischen Mittels des Kontrasts. In den Blick geriet zudem die Haptik und geradezu körperliche Materialität des Druckverfahrens sowie die differierende Zeitökonomie und Verbreitungsmöglichkeit von Zeichnung und Druckgrafik. In der gemeinsamen Betrachtung der Kupferstiche, Holzschnitte und Radierungen lag– wie schon am Tag zuvor – ein besonderes Augenmerk auf den Produktionsbedingungen, die in einem produktiven Wechselspiel von Materialien und Techniken als serielle Form der Evidenzproduktion der Bilder wahrnehmbar wurden. Die erneute Konzentration auf das Motiv des Rhinozeros pointierte die Spannung zwischen Invention und Imagination in der Produktion und der nachträglichen Rezeption im Spannungsfeld von Kultur und Natur.

André Rottmann

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