Forschung

Caravaggio, Haupt der Medusa, Florenz, Uffizien (Detail)

Caravaggio, Haupt der Medusa (Detail), Florenz, Uffizien

BildEvidenz Forschungsprogramm

 

1. Thema: BildEvidenz

Das Vorhaben nimmt eine der ältesten und elementarsten Fragen der Bildreflexion auf, nämlich die nach den Strukturen und Verfahren bildlicher Evidenzerzeugung. Es sieht seine besondere Bedeutung und aktuelle Relevanz darin, dass es diese Frage pointiert auf das ästhetische Profil dieser Evidenz ausrichtet. Dabei gehen wir von der Prämisse aus, dass bildliche Evidenzerzeugung eine ästhetische Grundkategorie darstellt, die einerseits Verfahren der Repräsentation von Wirklichkeit bezeichnet, dabei andererseits aber auch eine genuine visuelle Eigen-Präsenz hervorbringt. Diese zweifache Bestimmung des Bildes – als Repräsentation und Präsenz – ist für das Projekt grundlegend, denn nur in der dialektischen Vermittlung dieser beiden Modalitäten kann die zentrale Bedeutung und Funktion von Bildern angemessen beschrieben werden. Vorrangiges Ziel des Projekts ist es deshalb, die verschiedenen historischen und systematischen Formen dieser Vermittlung aufzuzeigen.

Ein derartiges Unterfangen wirkt gegenwärtig ebenso herausfordernd wie dringlich. Denn es trifft auf eine Situation der Kultur- und Bildwissenschaften, in der die allenthalben diskutierte Frage nach der Bedeutung der Bilder durch eine Engführung und Polarisierung scheinbar antagonistischer Positionen aufgerieben wird. Zum einen herrscht eine umfassende Skepsis an der bildlichen Evidenz von Natur und Gesellschaft, von Politik und Geschichte, indem Bilder als der Sprache analoge und lesbare Zeichensysteme betrachtet werden, die über keinen spezifischen Eigensinn verfügen und gleichsam verbraucht sind, sobald ihre Botschaft entziffert ist. Exemplarisch hierfür stehen jüngere Versuche, Bild und Bildlichkeit im begrifflich dominierten »Theorierahmen« einer »allgemeinen« Bildwissenschaft zu erfassen, ohne dabei den historischen und ästhetischen Besonderheiten des Bildes gerecht zu werden. Andererseits wird verstärkt der Anspruch der Bilder auf eine autonome Sinnproduktion reklamiert, die das Bild durch eine Abkopplung seiner Bezüge auf eine außerbildliche Wirklichkeit zu bestimmen versucht. Der komplexe Wirklichkeitsbezug des Visuellen wird hier im Grunde als bloßes Akzidens betrachtet, das die eigentliche Erkenntnis der vermeintlich reinen und unverstellten Bildlichkeit überlagert und trübt, ja behindert. Dieser essentialistischen Tendenz zur Reduktion und Isolierung des Bildes leistet innerhalb der Kunstgeschichte zudem ein teleologisches Narrativ Vorschub, das den Fortschritt der Moderne in einer zunehmenden Ausschaltung von Referenz und in der Freisetzung einer ›reinen‹, referenzlosen Bildlichkeit sieht. Auch die quasi-animistische Rede vom »Leben« der Bilder, ihren »Begierden«, ihrem »Willen« oder ihrem Status als autonomer Subjekte begegnet der aktuellen Herausforderung einer Bestimmung ästhetischer Evidenz mit einer ungeklärten Mythisierung ihrer genuinen Kapazitäten.

So werden die Bild- und Kulturwissenschaften in ihrer Programmatik von einem kaum überbrückbaren Antagonismus bestimmt. Während die ästhetische Evidenz des Bildes auf der einen Seite ignoriert und ihrer genuinen Wirkungsweisen und Erscheinungsformen beraubt wird, wird sie auf der anderen Seite verabsolutiert und von ihren vielgestaltigen historischen, sozialen und kulturellen Bezugnahmen auf außerbildliche Wirklichkeiten abgekoppelt. Für die Poetologien des Bildes, wie sie gegenwärtig im Bereich der Bild- und Kulturwissenschaften entworfen werden, scheint somit im Grunde eine mehr oder weniger latente Vergleichgültigung gegenüber der ästhetischen Fundierung des referentiellen Gehalts charakteristisch.

An dieser Aporie setzt unser Vorhaben an. Es versteht Eigengesetzlichkeit und Wirklichkeitsbezug, Autonomie und Heteronomie nicht als sich wechselseitig ausschließende Pole einer Dichotomie, sondern vielmehr als Komponenten eines Verhältnisses, das allererst als intrinsische Verschränkung den ästhetischen Fundierungszusammenhang des Bildes begründet und eben als solches zu analysieren ist. Kriterien für diese Analyse halten nicht zuletzt die Bilder selbst bereit. Denn sind sie vielfach Gegenstand der theoretischen Reflexion, so verfügen sie doch zugleich auch über einen eigenen reflexiven Status. Dieser begründet sich in einem doppelten Sinn: in der Abgehobenheit der Bilder von jener Wirklichkeit, auf die sie sich gleichwohl beziehen, und in ihrer Rückbezüglichkeit auf ihre eigenen Produktionsbedingungen. Dass Bilder theoriehaltig sind und in diesem Sinne eine eigene Diskursivität verkörpern, ist zentral für die Frage, wie sie Evidenz erzeugen. Denn es eröffnet sich hieraus die Möglichkeit, aus den Bildern selbst verbindliche Kriterien ihrer ästhetischen Form zu gewinnen, Kriterien, die ihrerseits wieder eine beschreibbare Geschichte haben und mithin historisierbar sind. Indem das Darstellen als Darstellen nach seinem Sinn befragt wird, wird zugleich das Betrachten des Bildes und von ihm her das Feld seiner Außenbeziehungen reflektiert. So eröffnet das Unterfangen, der Kategorie der Evidenz ihre historische Tiefe zurückzugewinnen, zugleich einen gangbaren Weg, zwischen historischer Betrachtung und ästhetischem Zugang, zwischen Begriff und Anschauung und mithin zwischen dem Wirklichkeitsbezug des Bildes und seiner Eigenwirklichkeit zu vermitteln. Nur auf diese Weise kann der Besonderheit der Bilder Rechnung getragen werden, einerseits durch ihre vielfachen historischen und kulturellen Bezüge bestimmt zu sein, anderseits aber auch in ihrer heutigen Präsenz und Gegenwart unvermindert einer ästhetischen Erfahrung offen zu stehen. Durch den beschriebenen, dynamischen Begriff von Bild und Evidenz kann auch die in den konkurrierenden ›turns‹ (›linguistic‹ vs. ›iconic‹) virulente Tendenz zur polemischen Gegenüberstellung von Bild und Schrift, von visueller und textueller Kompetenz überwunden werden, um das Forschungsfeld einer transdisziplinären Perspektive neu zu erschließen.

Die Kolleg-Forschergruppe hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, einen komplexeren Bildbegriff zu entwickeln, der die genuine Leistung des Visuellen adäquat zu fassen vermag, zugleich aber auch die konstitutiven Bezüge zur sprachlichen, kulturellen, sozialen und politischen Einbettung der Bilder wieder maßgeblich in den Blick nimmt. Die enge Zusammenarbeit mit der Literatur- und Filmwissenschaft, mit Geschichte, Philosophie und Kulturwissenschaft ist dabei grundlegender Bestandteil des Forschungsprogramms.

2. Forschungsfelder

In den kulturwissenschaftlichen Disziplinen und in der Wissenschaftsgeschichte erlebt der Begriff der Evidenz in jüngerer Zeit ein gesteigertes Interesse, das durch die bildwissenschaftliche Wende zusätzliche Dynamik erhält. Es wurde sogar eine »Sehnsucht nach Evidenz« (Harrasser/Lethen/Timm) konstatiert, die nach den Referentialitätsverlusten des Poststrukturalismus und Konstruktivismus nun als Anzeichen für eine notwendige methodische Neubestimmung der Beziehungen zwischen den Zeichensystemen und der Welt, zwischen Repräsentation und Präsenz gedeutet wird. Dieses Forschungsfeld will die Kolleg-Forschergruppe an der Schnittstelle zwischen Bild- und Kunstgeschichte sowie Ästhetik, Erkenntnistheorie, Wissenschafts- und Mediengeschichte nun in einer umfassenden, interdisziplinären Perspektive erschließen. Dabei setzt das Projekt mit der Frage nach den Strukturen und Verfahren bildlicher Evidenzerzeugung an einer aktuell hoch relevanten Problemstellung an, die in gezielter Abkehr vom Konzept einer ausschließlichen kulturellen Konstruiertheit von Welterfahrung versucht, die Eigenlogik der Bilder, ihre verschiedenen Funktionen und Handlungsfelder historisch und systematisch neu zu bestimmen. Der radikalen Abkehr vom Realen, wie sie den Theorien der Simulation, der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit oder der Auflösung der Welt in Diskurse zugrunde lag, antwortet seit neuestem eine gegenläufige Bewegung zurück zu den »Sachen selbst«. Beide Engführungen verfehlen jedoch die komplexe Wirkungsweise bildlicher Evidenz. Die Herausforderung besteht deshalb darin, die Evidenz der Bilder weder als reines Konstrukt und bloßen Oberflächeneffekt wechselnder Codes und Zuschreibungen zu unterschätzen, sie andererseits aber auch nicht im Zuge der gegenläufigen Tendenz zur (Re-) Ontologisierung und Enthistorisierung des Bildes zu verfehlen.


2.1 Semantik des Ästhetischen

Ein maßgebliches Anliegen des Projektes ist es, die ästhetische Spezifik bildlicher Evidenz in Hinblick auf ihre historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Fundierungszusammenhänge zu untersuchen. Gefragt wird also danach, wie Bilder in bestimmten, sei es sozialen, religiösen oder politischen, sei es kulturellen, ökonomischen oder epistemologischen Kontexten bestimmte Anspruchs- und Repräsentationsziele nicht nur auf inhaltlich-ikonographischer Ebene, sondern auch und gerade auf dem Wege einer formästhetischen Bedeutungsproduktion artikulieren und ihnen dadurch eine Evidenz verleihen, die sich der Logik einer ausschließlich diskursiven Bestimmung entzieht. Die historische, sozialwissenschaftliche und kunstsoziologische Forschung bietet hierfür bislang kaum befriedigende oder hinreichend konkrete Analysemodelle an. Somit bleibt das bereits von Martin Warnke in seinem soziologischen Modellentwurf »Bau und Überbau« explizit als zukünftige Aufgabe formulierte Postulat einer »Überleitung zur Form« nach wie vor als uneingelöstes Projekt und unerfülltes Desiderat der Kunstgeschichte bestehen.

Hieran setzt das Vorhaben an, indem es das Verständnis und die Analyse der bildlichen Evidenz von Geschichte, Gesellschaft und Politik anhand von fallorientierten Studien theoretisch und methodisch neu begründen will.

 

(a) Charisma des Schönen: Bildpolitik der Evidenz im späten Mittelalter

Es soll untersucht werden, inwieweit angesichts der zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung identitätsstiftender Einheitsideale und Gemeinwohlideen aus bisherigen kirchlich-religiösen Fundierungszusammenhängen, wie man sie im späten Mittelalter beobachten kann, öffentliche Bilder und Bildprogramme nicht nur durch neuartige Ikonographien, sondern auch und gerade durch medieneigene Sprachformen und Visualisierungsstrategien ein durch diese Entwicklung aufgetretenes charismatisches Vakuum besetzen und es, gewissermaßen kompensatorisch, mit religiöser bzw. quasi-religiöser Autorität zu füllen suchen. Was sich hier vollzieht, so eine These des Projektes, ist ein ebenso fundamentaler wie folgewirksamer Prozess der gesellschaftlichen, politischen und juridischen Re- und Umsemantisierung durch ästhetisch operationalisierte Wertbesetzung. Der Schwerpunkt der Untersuchung wird auf dem italienischen Due- und Trecento liegen, wobei neben den prominenten Bildprogrammen auch weniger bekannte bzw. fragmentarisch erhaltene oder nur dokumentarisch bezeugte Bildkomplexe in umfassender Systematisierung analysiert werden sollen. Darüber hinaus werden auch nordalpine Beispiele herangezogen.

Wie leisten diese Bilder, so lautet die Frage, die ihnen zuwachsende neuartige Aufgabe, jene professionelle, in einer rationalen, verrechtlichten und bürokratischen Amtswaltung verankerte Regierungskompetenz, die im politischen Kontext vielfach als ein säkulares Substitut und Kompensat an die Stelle der vormals göttlich legitimierten ›Übernatur‹ herrscherlichen Handelns tritt, charismatisch zu überhöhen und aller Alltäglichkeit institutioneller Verhältnisse zu entrücken? Der Begriff des Charismas und seine ästhetische Wendung erscheint hier für das Frageinteresse des Projektes besonders vielversprechend, wird er doch – im Anschluss an Max Weber und die Fortführung seiner Theorie durch jüngere kultursoziologische Perspektiven – als Manifestationsform außeralltäglicher Ideen verstanden, die durch die Vorgabe von Sinn Erlösung aus alltäglicher menschlicher Lebensführung, gesellschaftlicher Bedingung und je mit ihr verknüpfter Handlungsunsicherheit versprechen. Im Rahmen des Projektes verweist der Charisma-Begriff damit auf die soziostrukturelle Dimension des Ästhetischen, das es in seiner Kulturbedeutung zu erfassen gilt: Das Ästhetische als Medium und Agens sowohl einer Zuschreibungsdynamik, die religiöse (und zugleich auch ideologische und politische) Werte überträgt bzw. neu formiert, als auch eines Institutionalisierungsprozesses, in dessen Verlauf diese Werte erfolgreich rationalisiert, durch Symbole, Dogmen und Rituale überhöht bzw. sublimiert und in Weltbildern gefestigt und fundiert werden.

Das Vorhaben möchte vor diesem Hintergrund die Frage ins Auge fassen, inwieweit die politisch, ideologisch, juristisch und institutionell so vielfältig besetzten Darstellungsziele, die allesamt auf abstrakte, unanschauliche Wertbegriffe, Handlungsmuster und Leitvorstellungen abheben, mit dem Umstand in Konflikt geraten, dass sich das gemalte Bild seit der Zeit um 1300 immer stärker als mimetische Repräsentation etabliert, und inwieweit dabei ein topisches Inventar an bildlichen Mustern, ikonographischen Codes und Bild-Text-Relationen durch ein wachsendes Potential der Fiktionalisierung und der poietischen Aufladung der besagten Darstellungsziele transformiert wird, um auf solche Weise eine neuartige Darstellungshermeneutik mit zugleich ästhetischem wie wirklichkeitsdeutendem Anspruch zu etablieren. Wie entfalten die Bilder und Bildprogramme unter dem Augenschein mimetisch bestimmter Figurationen politische und regierungsrechtliche Argumente? Wie belegen sie diese mit dem Bildeindruck der Evidenz im Sinne einer unzweifelhaften Überzeugungs- und Beweiskraft? Und welche Rolle kommt dabei dem in öffentlichen Reden, Predigten und Traktaten ebenso wie in kommunalen Statuten oder regierungsadministrativen Vorschriften hierzu gehäuft und explizit ausgesprochenem Postulat von ›Schönheit‹ und ästhetischem Anspruchsniveau zu? Inwieweit manifestiert sich in der systematischen Zusammenschau der im Einzelnen jeweils hochkomplexen und vielfältig ausdifferenzierten Ausprägung dieser Bilder eine maßgeblich auf ästhetisches Erfahren von sozialen und politischen Botschaften hin angelegte Geltungsabsicht?

 

(b) Sakralisierung und Stilisierung: ästhetische Evidenz und ihre Diskrepanzen in der frühen Neuzeit

Mit der auf den Umbruch von Spätmittelalter zu früher Neuzeit konzentrierten Untersuchung soll der historischen und systematischen Erschließung von Aspekten zugearbeitet werden, die zugleich für die Fragestellung des gesamten Vorhabens wesentliche Perspektiven und Folgerungen bereithalten. So soll zum einen gezeigt werden, dass die Frage nach der Ästhetik der Evidenz einseitig und verengt gerät, wenn sie sich wesentlich auf deren Begründung aus der humanistischen Kunsttheorie und Rhetoriktradition verlegt und damit das komplexe Spektrum ihrer bildgeschichtlichen Voraussetzungen verkürzt. Zum anderen soll in einem Folgeschritt der Untersuchung weiter gefragt werden, inwiefern die im Due- und Trecento elaborierten Verfahren einer genuinen Neusemantisierung durch Ästhetisierung bereits ein maßgebliches Ferment für jene systematische Überhöhung, ja Sakralisierung des Ästhetischen in sich bargen, die seit der Renaissance als eine zunehmende Divinisierung des Kunstschönen und als eine auch kunsttheoretisch institutionalisierte Reklamierung von dessen quasi-religiöser Offenbarungsleistung zutage trat. Damit rückt eine Konstellation in den Blick, deren Konsequenzen bis hin zur Entfaltung der Kunstreligion im 18. und 19. Jahrhundert virulent bleiben, und die noch in jener Vorstellung von einer »Postfiguration« (Rentsch 1998) religiösen Erlebens durch die moderne Kunst manifest sind, der zufolge die ästhetische Immanenz des autonom gewordenen Kunstwerks als Erbe der Religion zu begreifen ist und eben von daher selbst wiederum religiös überhöht wird.

Die Frage nach der Ästhetik bildlicher Evidenz soll vor diesem Hintergrund insbesondere in zwei Richtungen verfolgt werden.

Erstens in Hinblick auf das in und mit Bildern modellierte Verhältnis von religiöser und ästhetischer Erfahrung. Gaben die Prämissen der mimetischen Repräsentation in der frühen Neuzeit als Maxime vor, die bildliche Darstellung der Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Sichtbarkeit und Augenscheinlichkeit zu leisten, so musste dieses Gebot angesichts der dem religiösen Bild gestellten Aufgabe der Vergegenwärtigung von Transzendenz in die grundlegende Paradoxie einer bildlichen Evidenz des Unschaubaren führen. Das Vorhaben will hier ansetzen und untersuchen, inwiefern sich dabei Lösungen im Horizont von Darstellungsverfahren ergaben, die das besagte Problem der paradoxen Evidenz ästhetisch durch deren bildliche Reflexion kompensierten und zugleich sublimierten. Das zentrale Frageinteresse richtet sich damit auf einen komplexen Umformungsprozess der ästhetischen Signifikation, in dessen Folge die Leistung des Bildes weniger nach der anschaulichen Evidenz der in ihm zum Vorschein gebrachten Wirklichkeit bemessen wird, als vielmehr nach der Sichtbarmachung von deren unschaubarer, imaginärer Natur. Vor diesem Hintergrund möchte das Vorhaben zeigen, dass die wachsende Ästhetisierung des Bildes in der frühen Neuzeit nicht einsinnig als ein Autonomisierungsprozess oder als die Etablierung eines »Zeitalters der Kunst« (Belting 1989) misszuverstehen ist. Vielmehr ist das Reflexionsmoment, das der ästhetischen Evidenz inhärent ist, so die These, unlöslich an deren sichtbaren Bezug zur unsichtbaren Wirklichkeit des Dargestellten geknüpft. Eben dies will das Vorhaben aufzeigen: Dass und wie bildliche Evidenz sich als polare Spannungseinheit zwischen Autonomie und Heteronomie konstituiert.

Exemplarisch sollen diese Zusammenhänge an der Malerei der Renaissance (insbesondere in Venedig und Oberitalien) sowie des römischen Frühbarock um 1600 (mit einem besonderen Fokus auf Caravaggio und den Umkreis seines Werkes) untersucht werden. Damit ist die Fragestellung situiert im je spezifischen kunstsoziologischen Kontext der historischen besonders folgewirksamen Genese neuer Auftrags- und Funktionsbedingungen der Bilder und der in ihnen virulenten ästhetischen Dispositive. Insbesondere an der neuen Gattung des Sammlerbildes, die in Venedig um 1500 wie in Rom um 1600 eine je eigene historische Ausprägung und Verbreitung erfährt, soll die Verschränkungsdynamik zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung, die beide Male das Ferment eines gesellschaftlich wie künstlerisch akut erhöhten Distinktionsdrucks in sich trägt, analysiert werden.

Im weiteren Rahmen dieser Analysen sollen, zweitens, in grundsätzlicher Perspektive die ästhetischen Kategorien von Stil und Form und die Frage nach ihrem Anteil an der Evidenzerzeugung von Bildern neu in den Blick gerückt werden. Stil und Form bestimmen als eminente Kategorien der Produktion bzw. Ausgestaltung und Faktur des Bildes dessen Sichtbarkeit und prägen in unterschiedlichen Kontexten ein komplexes, je spezifisches Wechselverhältnis zwischen seiner material-sinnlichen Präsenz und seiner darstellenden Verweisfunktion aus. Dabei werden vielfältige Fragen akut, die sich aus der breiten historischen und medialen Variabilität von Stil und Form begründen: Auf welche Weise etwa fördern, affirmieren und stabilisieren oder aber behindern, verschleiern und unterlaufen sie die Sichtbarkeit von dargestellter Wirklichkeit und modifizieren damit deren Plausibilität oder Gegenwärtigkeitseindruck? Anders gefragt: Wie semantisieren Stil und Form auf diesem Wege die Evidenz von Wirklichkeit im Bild und/oder ihre Evidenz als Bild? Als Prämisse bei der Untersuchung dieser Fragen muss gelten, dass Stil und Form keine Gleichung bilden. Denn historisch und semantisch vielfältig determiniert (etwa als Zeit- oder Epochenstil, als Personal- oder Individualstil, als Schul- oder Werkstattstil, als Gattungsstil, als Funktionsstil, als rhetorisierter Stil oder Stilmodus etc.) ist »Stil« maßgeblich ein formbegründetes »Diskurselement«, dem eine wechselhafte Geltung, eine flexibel ausgeprägte Normativität und darüber hinaus ein hohes Potential an kontextueller Ausdifferenzierung und Pluralisierung zukommt.

Für die Frage nach der Ästhetik bildlicher Evidenz und nach der historischen Spezifik ihrer Visualisierungsleistung ist dieser Zusammenhang zentral. So gilt bereits für das Trecento, dass die neuen öffentlichen Bilder sich als Medien ausweisen, die an der Schnittstelle nicht nur zu vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Kontexten stehen, sondern auch und gerade zu reich elaborierten visuellen Diskursen und zu deren genuiner Weise der Bedeutungsproduktion. Inwieweit prägen sich dabei regelrechte ›Bildstile‹ der gesellschaftlichen und politischen Argumentation aus? Und inwiefern sind notorisch vermerkte Stilgegensätze, wie sie etwa in der kommunalen Bildproduktion zwischen Florenz und Siena zu verzeichnen sind, im Horizont von kollektiven Symbolisations- und Repräsentationszielen als absichtsreiche ›Stilisierungen‹ zu deuten, die ihre eigenen, nachhaltig wirksamen Evidenzeffekte produzieren? Lassen sich diese ›Stilisierungen‹ auf die Vorstellung von gesellschafts-, mentalitäts- oder gar klassenspezifischen Ausdrucks- oder Stilmodi reduzieren, wie dies etwa Frederick Antal, Millard Meiss und andere gerade für die Kunst des Trecento versucht haben? Oder entfalten sie ihre genuine Leistung weniger als ›Ausdruck‹ vorgängiger sozialer und politischer Prätexte, sondern vielmehr performativ, als ästhetisch wirksame Dispositive, die sich produktiv der Praxis der sozialen und kulturellen Imagination einschreiben und auf diese Weise ihrerseits das politische Selbstbild und Bewusstsein der Gesellschaft modellieren?

Ein ähnlich breites Fragenspektrum richtet sich auch auf die anderen historischen Untersuchungsszenarien. Inwiefern konstituiert sich etwa die lange, in ihren Ansätzen bereits im Trecento wurzelnde und seit der Renaissance so extensiv geführte disegno-colorito-Debatte einerseits als eine Auseinandersetzung um die künstlerische Perzeption und Konzeption von Wirklichkeit im Medium ihrer bildlichen Visualisierung, und andererseits doch auch als eine Kontroverse, die im Zeichen distinkter kultureller Paradigmen und Stilisierungen um den institutionellen, politischen und ökonomischen Durchsetzungsanspruch zwischen Venedig und Florenz geführt wird? Und welche Rolle kommt dabei wiederum dem Distinktionsdruck der einzelnen Künstler und ihrem Ringen um Behauptung in einer zunehmend marktbestimmten Kulturorganisation zu? Aus dieser Perspektive ist auch in Hinblick auf die frühbarocke Kunstentwicklung zu untersuchen, in welchem Maß die Etablierung eines singulären und neuartigen Bildstils, wie sie sich paradigmatisch etwa am Auftreten einer Figur wie Caravaggio verfolgen lässt, unter den verschärften Marktbedingungen von künstlerischer Konkurrenz und Distinktion nicht nur an den programmatischen Entwurf eines eigenen Copyrights durch Stilisierung geknüpft war, sondern auch Semantisierungsziele in sich trug, die der Konstruktion eines Persönlichkeitsmythos der originären, auch sozial elementaren Alterität durch die suggestive Evidenz des spezifischen Bildstils Vorschub leisten konnten. Damit verbunden ist zugleich ein breites Spektrum an Fragen nach der Dynamik, mit der solche Stilisierungen sogleich und regelrecht inflationär als eine ›Mode‹ in Umlauf gelangten, und ferner danach, wie sich dabei die Selbst- und Fremdbilder von künstlerischer Originalität und ihrer Evidenz im Werk einerseits modifizierten und ausdifferenzierten, und wie doch andererseits die dabei eintretende Stilisierungsinflation die Singularitätsambitionen wieder kontraproduktiv unterlief.

 

(c) Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit: Ästhetik des ›optisch Unbewussten‹

Zu den historischen Umbruchkonstellationen, die entscheidende Einschnitte in der Geschichte des Sehens und damit der Ästhetik des Sichtbaren bewirkt haben, gehört auch das Auftreten und die Etablierung der Medien Fotografie und Film im 19. und 20. Jahrhundert. Mit den durch diese Medien erzeugten Bildern verband sich in vielen Bereichen die Aufgabe, Wirklichkeit nicht nur zu repräsentieren, sondern selbst eine physische Spur dieser Wirklichkeit zu sein. Damit entstanden aber auch ganz neue Verfahren der Evidenzerzeugung im Bereich des Unsichtbaren. Zwar haben auch die klassischen Bildkünste immer schon einen Teil ihrer Funktion darin gesehen, gerade auch sinnlich nicht wahrnehmbare Phänomene und Entitäten (etwa durch Symbole oder Allegorien) zur Darstellung zu bringen. Mit der Fotografie und dem Film tritt aber eine grundsätzlich andere und neue Form der Abbildung des Unsichtbaren hinzu, nämlich die Möglichkeit seiner apparativen Aufzeichnung und Übertragung – so kontrovers dieser Anspruch auch von Anfang an diskutiert wurde. Durch explorative Verfahren wie Momentfotografie, Zeitverlangsamung- oder Beschleunigung im Film oder – im Bereich der wissenschaftlichen Visualisierung – Hervorbringung bis dahin unbekannter Bildwelten (durch extreme Vergrößerung, Röntgenstrahlung etc.) entsteht hier ein visuell strukturierter Raum des Wissens, der sich der menschlichen Wahrnehmung bisher entzogen hatte. Einerseits erhalten die Bilder über ihre abbildende Funktion hinaus jetzt vor allem auch »enthüllende Funktionen« (Kracauer 2005), d.h. die Möglichkeit, Ansichten der Welt vor Augen zu stellen, die außerhalb dieser Bilder selbst gar nicht wahrnehmbar sind. Anderseits war der Wahrheitsgehalt dieser Ansichten jedoch grundsätzlich prekär, insofern ihnen kein überprüfbares Korrektiv im Bereich des sinnlich Erfahrbaren mehr gegenüber stand: Fotografie und Film erzeugen hier Bilder ohne ersichtliches Vorbild. Mit dieser Form der Sichtbarmachung stand zur Disposition, was in dieser Welt zwischen sichtbaren Bildern und ihren (ursprünglich unsichtbaren) Vorbildern, zwischen Fakt und technischem Artefakt mit »Sehen« überhaupt noch gemeint sein konnte: Was bedeutete »Sichtbarmachung«, wenn dieser Vorgang einer Technik überantwortet war, die selbst nicht »sehen« konnte, sondern chemisch-physikalische Aufzeichnungen herstellte?

Diese durch Fotografie und Film erzeugte Evidenz des Unsichtbaren erfordert grundsätzlich ganz andere Beschreibungskategorien als sie etwa in der Tradition der klassischen kunsthistorischen Bildbeschreibung entwickelt wurden, da ihr andere Konzepte von Bildgenese, Autorschaft und Repräsentation zugrunde liegen. Im Gegensatz zu rein anthropologisch basierten Medientheorien, die jede Medientechnik grundsätzlich als Ausweitung oder Verlängerung menschlicher Sinne oder Organe verstehen, ist hier zunächst von einer grundsätzlichen Fremdheit, Kontingenz und Alterität des technisch Produzierten auszugehen. Zwar werden die Bilder einerseits durch gezielte Eingriffe, Intentionen und Manipulationen erst hervorgebracht, zugleich manifestiert sich in ihnen aber auch eine Eigengesetzlichkeit, die den Bereich der Intentionalität und Kontrolle übersteigt und gerade durch diesen Mehrwert überhaupt erst bedeutsam wird. Während die bisherige Forschung sich hier sehr stark auf den mit der fotografischen Aufzeichnung verbundenen Anspruch auf Objektivität konzentriert hat – und das heißt: eher auf das ideologisch motivierte Sprechen über Bilder als auf die Prozesse ihrer Generierung und Deutung selbst –, ist in Vergessenheit geraten, dass es sich bei diesem Anspruch eher um eine Rhetorik handelt, die von den Protagonisten selbst durch ihr praktische Arbeiten am Bild, ihre Eingriffe und Manipulationen ständig dementiert wurde. Wenn das durch Film und Fotografie hervorgebrachte »optisch Unbewusste« (Benjamin) also einerseits als genuin mediale Hervorbringung zu verstehen ist, so unterliegt es doch zugleich Verfahren der Manipulation, der Deutung und visuellen Gestaltung. Die ästhetische Spezifik bildlicher Evidenz ist eben kein bloßer Zusatz, sondern ist von der epistemischen Dimension der Evidenzerzeugung von Anfang an nicht zu trennen. So wäre beispielsweise im Fall der chronofotografischen Bewegungsstudien von Muybridge, Marey, Anschütz oder Londe zu zeigen, dass hier neben der dokumentarischen Absicht einer Aufzeichnung dem bloßen Auge unsichtbarer Bewegungsabläufe zugleich auch eine ästhetische Inszenierung des Dargestellten einhergeht (Arrangement der Modelle, Verfahren der Bildmontage etc.). Umgekehrt beginnen zur gleichen Zeit bildende Künstler die latenten Gestaltungskräfte des fotochemischen und filmischen Materials selbst zur Darstellung zu bringen, und auf diese Weise sichtbar zu machen, was im Normalfall der vermeintlich transparenten Wirklichkeitsübertragung gerade verschwinden sollte, nämlich die materiellen Spuren des Medialen selbst (Einbeziehung des Zufalls im Surrealismus, absichtliches Missachten technischer Vorschriften, um unvorhergesehene Effekte hervorzubringen, etc.).

Die Geschichte dieser gleichermaßen epistemischen wie ästhetischen Ausformung des Unsichtbaren ist bisher erst in Ansätzen geschrieben worden. Weit über den Bereich der Fotografie- und Filmforschung hinaus liegt die Aktualität solcher Studien aber auch darin, notwendige Alternativen zu der in der Forschung beinahe durchgängig verwendeten, viel zu statischen Opposition von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu entwickeln. Mit dem Begriff der »Abschattung« hatte schon die Phänomenologie darauf hingewiesen, dass bereits das gewöhnliche Sichtbare immer in ein Feld des »Unsichtigen« eingeschlossen ist, da jede optische Wahrnehmung voraussetze, dass andere Inhalte zugleich nicht wahrgenommen, aber doch »mitgemeint« und »symbolisch angedeutet« seien (Husserl 1973). So wie also bereits das vermeintlich rein ›Sichtbare‹ mit »unsichtigen«, aber gleichwohl wirkungsmächtigen Eindrücken durchsetzt ist, so ist umgekehrt auch das »Unsichtbare« keine black box, sondern wird bereits vor seiner fotografischen oder filmischen Sichtbarmachung durch Imaginationen, Vorahnungen, Erwartungen etc. vorstrukturiert. Ein dichotomisches, rein auf optische Perzeption gegründetes Verständnis von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit, wie es die Forschung dominiert, greift deshalb zu kurz. Neben dem bloß physiologisch aufgefassten Sehen muss deshalb auch die konstitutive Funktion der Imagination mit ins Blickfeld gerückt werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist vorgesehen, den Begriff des Bildes in der Arbeit des Projekts grundsätzlich auch auf nicht-optische Bilder – wie die Sprachbilder der Literatur – zu beziehen.

 

2.2 Bild, Evidenz und Imagination

Die Frage nach der Evidenz ist nicht zu trennen von derjenigen nach dem Imaginären und dem grundlegenden Anteil, der ihm an der menschlichen Bildproduktion zukommt. Was dabei zunächst in den Blick rückt, sind generell die individuellen und kollektiven Hervorbringungen der Imagination, und zwar in der ganzen Vielfalt ihrer historischen und anthropologischen, ihrer sozialen und psychologischen Aspekte. Das Spektrum der Erscheinungsformen, das in seiner Breite kaum stringent zu systematisieren ist, reicht von Erinnerungen und Gedächtnisleistungen bis zu Träumen, Visionen und Phantasmen, von sozialen Utopien, mythischen Entwürfen und religiös fundierten Glaubenserwartungen bis hin zu subjektiv bestimmten Sehnsüchten, Wünschen und Projektionen. Strukturell gemeinsam ist all diesen Hervorbringungen der Imagination, dass sie sich in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, besser gesagt: zu dem, was je als ›wirklich‹ angesehen wird, konstituieren und bestimmen, sei es als bewusste oder unbewusst erstrebte Angleichung, Nachbildung oder Teilhabe, oder sei es als kategorialer Gegensatz und Alterität: das Imaginäre als das Nicht-Wirkliche.

Vor diesem Hintergrund konturiert sich das besondere Frageinteresse des Forschungsvorhabens. Denn ungeachtet der historisch vielfältig ausdifferenzierten Begriffsverwendung (phantasia, imaginatio, Einbildungskraft, Vorstellungskraft etc.) geht es hier im Kern immer neu um die Struktur und Wirkungsweise jener formgebenden Veranschaulichung, kraft derer die Einbildungskraft sich in Bildern, die imaginatio sich in imagines konkretisiert und darin eine sichtbare, bindende Gestalt annimmt. Die Diskussion um die Natur oder »Seinsart« dieser Bilder und um das Verhältnis, das sich dabei zwischen mentalen Repräsentationen einerseits und sinnlich-materialen Bildern andererseits ausprägt, besitzt eine ebenso lange wie an divergierenden Positionen reiche Tradition. Dabei zeichnet sich ab, dass unter allen Hervorbringungen der Imagination den bildlichen Kunstwerken gemeinhin eine besondere Stellung eingeräumt wird, nicht zuletzt deshalb, weil sie als schöpferisch erzeugte Materialisierungen des Imaginären immer zugleich in einem komplexen Verhältnis von Annahme und Austausch, von Verarbeitung und Transformation zu den vielfältigen anderen Produkten der vis imaginativa stehen und von daher, wenn man etwa Wilhelm Dilthey folgen will, eine eigene, originäre Deutungskraft, genauer gesagt: einen eigenen reflexiven Status für sich beanspruchen dürfen. Begreift man daher die faktischen Bilder, im Sinne eines ›ausprägenden Mediums‹ bzw. einer medialen Konstruktion, als eine vergegenständlichte Substantiierung des Imaginären, so wird deutlich, dass dessen Freisetzung auch und gerade in Hinblick auf die ästhetischen Bedingungen des Mediums gelesen werden muss.

Aus diesem Zusammenhang bestimmt sich das Untersuchungsziel des geplanten Vorhabens, indem es sich zum einen auf die besondere Rolle richtet, die der Imagination für die bildliche Erzeugung von Evidenz zuwächst, und zum anderen auf den maßgeblichen Anteil, den sie an der ästhetischen Ausprägung dieser Evidenz besitzt. Welcher Art ist die Evidenz der Bilder, wenn man sie als Medien begreift, die im Zwischenfeld von sinnlicher Erfahrung und mentalen Vorstellungsbildern stehen? Und welche ästhetischen Strategien setzen sie ins Werk, um den Austausch, aber auch die Divergenz von Realität und Phantasie zu visualisieren, also jenes Wechselspiel zwischen der je als gegeben angesehenen Wirklichkeit und den transmateriellen Phantasieentwürfen, die sich in Träumen oder Erinnerungsbildern, Visionen oder poetischen Fiktionen manifestieren? Es sind Fragen, die im Zuge ihrer kontextuellen und historischen Engführung immer auch die systematische Reflexion darüber implizieren, inwieweit Bilder als Ineins von Materialität und Illusion, von Präsenz und Repräsentation einen Schnittpunkt oder eine Bruchlinie im Verhältnis von Imagination und Wirklichkeit bezeichnen.

 

(a) Religiöse Imagination und Bildevidenz im Spätmittelalter

Die Frage nach dem Zusammenhang von Imagination und Evidenz war bereits im Mittelalter virulent. So zieht die Imagination in einer Tradition, die von Aristoteles bis Augustinus und noch lange darüber hinaus reicht, zwar immer wieder die erkenntnistheoretische Skepsis und theologische oder moralische Vorbehalte auf sich. Doch wird sie dessen ungeachtet innerhalb einer Hierarchie der kognitiven Funktionen des Menschen zunehmend als ein produktives, erschaffendes und kreatives Vermögen privilegiert, dem eine hervorgehobene Bedeutung in Hinblick auf die Vermittlung zwischen intellectus und sensus, zwischen der Verstandesbegabung des Menschen und seiner gleichzeitigen Verfasstheit als Sinneswesen zuwächst. Was sich daraus begründet, ist die Alterität einer Evidenz, die den Erkenntnisrahmen streng epistemologischer Prämissen übersteigt. So entwickeln im Rekurs auf antike Vorgaben und in Anwendung des von der patristischen Literatur ererbten Imaginationsbegriffs bereits im 12. Jahrhundert etwa die Theoretiker der Schule von Chartres Überlegungen, die dahin gehen, dass bildliche Vorstellungen (imagines bzw. picturae) als sinnliche Konkretisationen der imaginatio dem Menschen einen Zugang zu Ideen und Gefühlen erschließen, die sich anders jedem rationalen, analytischen Zugriff des Verstandes entziehen. In der Folge finden solche Überlegungen, die die Imagination letztlich als einen metaphorischen Modus der Wirklichkeitserfahrung und Weltdeutung bestimmen, auch in der Dichtungskonzeption des Mittelalters einen nachhaltigen Niederschlag und tragen auf diese Weise nicht wenig dazu bei, die »Entdeckung der Fiktionalität« (Haug 1985) für den Akt der poetischen Gestaltung dauerhaft zu legitimieren. Bereits hier zeichnet sich ab, dass der aus dem Vermögen der Imagination erzeugten Evidenz eine Erkenntnisleistung und Erfahrungsmöglichkeit zuwächst, deren genuines Potential sich allererst ästhetisch begründet.

Ein vergleichbar wirksames Ferment für die ästhetische Ausprägung der Imagination findet sich im Bereich der spätmittelalterlichen Bildandacht bzw. Bildmystik. Die besondere Rolle, die dabei dem gemalten Bild als ›Materialisierung des Imaginären‹ zukommt, ist verankert im theologischen Kerngedanken aller Theorien zur bildmystischen Gnadenwahrnehmung, dass nämlich das sichtbare, materielle Bild im anagogischen Sinn als eine Transmissionsform für eine höhere, durch es hindurch und über es hinaus führende Schau des bildlich Unfassbaren dient, als Instrument, das vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, »per visibilia ad invisibilia« leitet. Vor diesem Hintergrund fragt das Vorhaben nach den Bedingungen und Entwicklungszusammenhängen, die dazu führen, dass sich im späten Mittelalter eine drastische Zunahme sowohl der Verbreitung als auch der ästhetischen Ausdifferenzierung dieser Bilder manifestiert. Ausgangsthese ist, dass dieser Prozess in direkter Verbindung mit dem Aufkommen der neuen Ordensgemeinschaften und ihrer verstärkten Wirksamkeit im Ambiente der städtischen, bürgerlich geprägten Kommunen und Signorien steht. Damit zeichnet sich, so die Annahme, eine bemerkenswerte Komplementariät zu jener eminenten Rolle ab, die Bilder im selben historischen und gesellschaftlichen Rahmen für das Bedürfnis nach Konkretisierung, Anschaubarkeit und Erlebbarkeit der unsichtbaren und auch institutionell nicht festgeschriebenen Ordnungsideen des Sozialkörpers und damit für die Gemeinschaftsbildung im politischen Zusammenhang spielen, wobei auch hier die Frage nach der neuen Bedeutung von medieneigenen Sprachformen und Visualisierungsstrategien und der forcierte Evidenz ihrer ästhetischen Dignität im Blickpunkt steht.

Die Steigerung der Bildandacht zur regelrechten Erlebnismystik und zur systematisch betriebenen Ekstase, die wachsende Bedeutung ihrer substantiellen Mittlerbedeutung und nicht zuletzt ihrer subjektivierenden und dogmenüberschreitenden Aneignung von Heilswahrheiten im späten Mittelalter markiert eine der wesentlichen Fortentwicklungen gegenüber früheren Formen des religiösen Bildergebrauchs. Das Vorhaben fragt danach, inwiefern die Aufwertung, die das Bild vor diesem Hintergrund als Instrument religiöser Jenseitsschau erfährt, weniger in seiner dinglichen Natur als vielmehr im Status seiner Fiktionalität begründet liegt. Inwiefern vollzieht sich die Erfahrung von Präsenz im Betrachter als eine Produktivität seiner Imagination, die durch das Bild und seinen konstitutiven Spannungsbezug zwischen Ähnlichkeit und Differenz freigesetzt wird. Anders gesagt: Im Zentrum der Beschäftigung mit spätmittelalterlichen Bildpraktiken steht die Frage, ob das Potential bildlicher Anschauung entweder zu einer Festlegung des Betrachters auf das konkrete Sosein der gegenständlichen Darstellung führt und damit den Spielraum seiner Phantasie durch den Eindruck einer kohärenten, geschlossenen Illusion reduziert, oder ob es vielmehr der Aktivierung und Freisetzung seiner Imagination zuarbeitet und damit den Weg zur Produktion eigener, innerer Vorstellungsbilder bereitet. Dahinter aber steht die weiterreichende, komplexe Frage nach dem gesellschaftlich und religiös wirksamen Verhältnis von Autorität und Emanzipation, und nicht zuletzt nach den Kriterien, der Auslegungskompetenz und der normsetzenden Kraft von bildlich erzeugter Evidenz.

 

(b) Evidenz und Bilderfindung in der Renaissance

Seit der frühen Neuzeit erfährt die theoretische Modellierung der Imagination gerade unter diesem Gesichtspunkt ihre Fortentwicklung, Zuspitzung und vielfältige Ausdifferenzierung. Dabei rückt immer maßgeblicher die Frage in den Blick, inwieweit sie als kreatives Vermögen in der Tat etwas gestaltbildend Neues hervorzubringen vermag, das jeden Wirklichkeitsbezug insofern übersteigt, als es seinerseits eine ›Wirklichkeit‹ eigenen Rechts mit einer eigenen ästhetischen Logik darstellt. Es liegt auf der Hand, dass an den unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Imaginationsbegriffs, die seit der Renaissance zwischen dem schöpferischen Auslegen von Welt und dem gleichsam divinen Erschaffen einer Welt oszillieren, gerade die Hervorbringungen der Bildkunst in eminenter Weise partizipieren. Diesen Zusammenhang will das Vorhaben untersuchen. Es geht dabei von folgender Prämisse aus: Indem das künstlerisch geschaffene Bild zunehmend als eine Wissensform und Verstehensweise anerkannt wird, dessen Erfahrung im elementaren Sinn zu einer Erfahrung des bildlichen Bedeutens selbst und des Systems der Repräsentation wird, gewinnt es mehr und mehr den Rang eines epistemologischen Projektes und vermag sich als solches konkurrierend mit den philosophischen und naturkundlichen scientiae und mit deren Evidenzerzeugung in Vergleich zu stellen.

Auch aus dieser Perspektive gewinnt die Frage danach, wie die imaginativ erzeugte Evidenz sich ästhetisch ausformt, eine besondere Virulenz. Das Vorhaben geht von der These aus, dass die zunehmende Fiktionalität des religiösen Bildes im späten Mittelalter im Betrachter als eine neue Produktivität des eigenen Sehens und als Konstruktion von Subjektivität zu Buche schlägt. Diese Freisetzung durch das Imaginäre wird in der Folge zum Signum eines Bildverständnisses, dessen historisches Aufkommen wesentlichen Anteil hat am frühneuzeitlichen Prozess der soziokulturellen Emanzipation des Individuums und seines Anspruchs auf Freisetzung aus kollektiven Normen und Bindungen. Ein zentraler, wiederkehrender Gedanke ist, dass das gemalte Bild sich als ein unlöslicher Zusammenhang von Schein und Sein, von Illusion und Fläche, von Transparenz und Opazität konstituiert, und dass folglich die formale Gegebenheit der Darstellung immer zugleich eine inhaltliche Reflexion ihres Sujets enthält und diese auch ästhetisch kundgibt. Dieser Sachverhalt soll u.a. am Beispiel der langen Geschichte der disegno-colorito-Kontroverse untersucht werden. Gefragt wird, inwieweit in ihr von Anbeginn ein spezifisches Bewusstsein für die der Malerei inhärente Kontradiktion von Abbild und Fläche ausgebildet ist, und damit zugleich ein vielfältiges Spektrum an ästhetischen Optionen, das sich aus dieser Kontradiktion ergibt. Leonardos Konzept des sfumato ist in den Prozess dieser Kontroverse ebenso maßgeblich involviert wie die Genese einer formal und inhaltlich zur offenen, gattungsauflösenden Bildstruktur tendierenden Malerei bei Giorgione. Inwieweit bezeugen etwa Leonardos »cose […] molto fumeggiate e cacciate«, also das Konzept einer systematisch angelegten Unbestimmtheit in der Gegenstandsbezeichnung seiner Linienführung, eine neue Ästhetik der Imagination, und wie schreiben sie den prozesshaften Vorgang sowohl der formalen als auch der intellektuellen Hervorbringung des Werkes – und damit letztlich den imaginationsbegründenden Vermittlungszusammenhang von ratio und sensus – in die sichtbare Gestalt des Bildes ein? Reflektieren sie damit nicht nur die auf das Thema bezogene Kategorie der Offenheit und Unbestimmtheit (obscuritas), sondern auch den produktiven Aspekt des rezipierenden Bewusstseins in der gebildehaften Wirklichkeit des Werkes und verankern ihn darin ästhetisch? Die Spannung, die durch die malerische Praxis des sfumato zwischen Sein und Erscheinung, zwischen Wirklichkeit und Sichtbarkeit aufgebaut wird, so die zentrale Annahme, impliziert in einem grundsätzlichen Sinn die Überlegung, dass bei Leonardo die Strukturen künstlerischer Naturerfassung nicht nur in einem epistemologischen Erkenntnisanspruch fundiert sind, sondern zugleich – und davon nicht zu trennen – in einer wirkungsästhetischen Logik der Repräsentation, deren Sinn sich erst in der aktiven, partizipativen Imagination durch den Betrachter erfüllt. Kurz: die Imagination wirkt bildproduzierend, sofern sie sich im Medium des gemalten Bildes konkretisiert, und leistet zugleich wiederum die Arbeit von dessen Bedeutungsverwirklichung und Evidenzproduktion.

Gerade dadurch, dass in diesem Sinn die Kunst der Malerei in der Renaissance als eine Wissensform und Verstehensweise anerkannt wird, deren Erfahrung im elementaren Sinn zu einer Erfahrung des bildlichen Bedeutens selbst und des Systems der Repräsentation wird, vermag sie mehr und mehr den Rang eines epistemologischen Projektes zu gewinnen und sich als solches konkurrierend mit den philosophischen und naturkundlichen scientiae in Vergleich zu stellen. Die spezifische Alterität aber, die ihrer genuinen, nämlich ästhetischen Erkenntnisleistung jenen scientiae gegenüber eignet, begründet sich in der doppelten Bedeutung, die dem gemalten Bild als Abbild und Fläche, als Sein und Erscheinung, als Produkt und sichtbarer Niederschlag der Imagination und zugleich als deren Ursache und Ferment innewohnt. Im Blick auf das Spektrum, das in den Werken eines Leonardo und Giorgione, aber auch eines Andrea Mantegna oder Antonello da Messina, eines Giovanni Bellini, eines Gerolamo Savoldo und zahlreicher anderer mehr vor Augen steht, soll in dem Vorhaben daher der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern die Malerei der frühen Neuzeit in Italien, die auf der einen Seite ganz im Zeichen der Herausbildung eines neuen mimetischen Vermögens steht, im Gegenzug und komplementär dazu ebenso sehr die ästhetische Option ausprägt, das Bild auch in seiner Materialität und mithin in seiner Eigenwirklichkeit als Medium anzuerkennen.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die grundsätzliche Bedeutung ab, die der Ästhetik bildlicher Evidenz in der frühen Neuzeit beim ›Lesbarmachen‹ der Welt und bei ihrer ideologischen Wertbesetzung zukommt. Auf diesen Zusammenhang ist das Forschungsinteresse in zentraler Weise gerichtet. Das Vorhaben geht dabei von der Annahme einer historisch spezifischen, scheinbar kontradiktorischen Konstellation aus. Sie besagt, dass die epistemologische Situation der frühen Neuzeit, verkürzt gesagt, zwar durch eine fundamentale Skepsis am ›Sichtbaren‹ geprägt ist, dass sie jedoch zugleich durch das nachdrückliche Bedürfnis nach ›sinnlicher Evidenz‹ ausgezeichnet ist. Man denke an die »Leitfossilien« (Blumenberg) des Teleskops oder Mikroskops oder etwa an die weit reichende Entfaltung der rhetorischen Dialektik von inganno und disinganno. Das geplante Vorhaben will danach fragen, inwiefern aus eben dieser Konstellation ausdifferenzierte Verfahren einer reflexiven Aufladung der visuellen Medien resultieren, und inwieweit diese Medien verstärkt als Plausibilisierung religiöser Transzendenzvergegenwärtigung, aber auch als Markierung oder als Kontrolle des ›trügerischen Blicks‹, des ›Scheins‹, der ›falschen Bilder‹ etc. dienen. Eine Kernthese des Vorhabens, der es nachzugehen gilt, besteht also zum einen in der Annahme, das sich in der frühen Neuzeit ein fortschreitender Prozess der ›Entsubstantialisierung‹ des Unsichtbaren, d.h. der wachsenden Einsicht in seine kategoriale Rückgebundenheit an die Ästhetik seiner Evidenz vollzieht, und zum anderen, dass den Bildern und ihrer Geschichte in diesem Prozess eine maßgebliche, nachhaltig wirksame Bedeutung zukommt. Aus dieser Perspektive ist schließlich auch die Frage aufzuwerfen, inwieweit jener Glücksanspruch des ästhetischen Blicks, der seit der Frühmoderne seine Erfüllung angesichts einer als ›auratisch‹ apostrophierten Kunst zu finden scheint, als eine »Postfiguration der traditionellen eschatologischen Glücksverheißung« (Rentsch 1998) und in diesem Sinn als ein Erbe der Religion zu begreifen ist.

 

 (c) Historische Einbildungskraft: Wieder/Herstellung, Dokumentation, Fiktion

Das Verhältnis von Imagination und Wirklichkeit soll auch im wichtigen Bereich der visuellen Rekonstruktion von Geschichte untersucht werden, d.h. mit Blick auf die besonderen Bedingungen und Herausforderungen einer vergangenen Wirklichkeit. »Visuelle Rekonstruktion« soll dabei jene Verfahren bezeichnen, mit deren Hilfe eine Kultur sich zu ihrer eigenen Vergangenheit in Beziehung setzt – sei es in der Deutung und Bearbeitung sichtbarer Spuren und Reste, sei es in der nachträglichen Konstruktion von Bildern, die das Vergangene in Form von Artefakten, Visualisierungen und Imaginationen vorstellbar machen sollen. Einbildungskraft, verstanden als das »Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen« (Mattenklott 2006), gewinnt hier eine zentrale Bedeutung. Zu den Instanzen, die eine solche visuelle Vermittlung zwischen Gegenwart und Vergangenheit leisten, gehören: historisch orientierte Wissenschaften (Kunstgeschichte, Geschichte, Archäologie etc.), deren Forschungsobjekte den Charakter sichtbarer Reste und Fragmente besitzen und daher einer materiellen oder ideellen Wiederherstellung bedürfen; die bildende Kunst in ihren zahlreichen reflexiven Formen der Bezugnahme auf Vergangenes (Historienmalerei, re-enactments in der zeitgenössischen Fotografie und Videokunst); diverse Formate des Films (historischer Spielfilm, Kompilationsfilm, sog. »Doku-Drama«), kunstgeschichtliche Institutionen (Museum, Denkmalpflege, Restaurierung); schließlich Erinnerungsorte (Mahnmale, Gedenkstätten, Schauplätze historischer Ereignisse etc.). Allen diesen Orten und Instanzen visueller Rekonstruktion ist gemeinsam, dass sie komplexe Verschränkungen von Sichtbarkeit und Imagination, Gegenwärtigkeit und Entzogenheit, Sehen und Wissen ausbilden. Die weitreichenden Ansprüche an die ästhetische, künstlerische und epistemische Funktion des Bildes, die sich daraus ergeben, sollen im Projekt einer historischen und systematischen Untersuchung unterzogen werden. Für die einzelnen Fallstudien aus den genannten Gebieten sollen dabei folgende Fragen als Leitbild dienen: Welche spezifische Bedeutung kommt der Sichtbarkeit, dem Augenschein und der Evidenz für das Verständnis der Vergangenheit zu? Wie verhalten sich Sehen und Wissen zueinander? In welchem Verhältnis stehen visuelle Rekonstruktion und Fiktion, Faktizität und Illusion? Wie wird in den verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Verfahren visueller Evidenzerzeugung des Vergangenen mit Nicht-Wissen, mit der Lückenhaftigkeit und Fragmentarität des Überlieferten umgegangen?

In diesem Zusammenhang stellt nicht zuletzt die kritische Neubestimmung des Begriffs der Illusion eine vielversprechende Aufgabe dar (Koch 2006). »Illusion« wird – ähnlich wie der Begriff der »Einbildung« oder der »Fiktion« – häufig in einem abwertenden Sinne verwendet. »Illusion« bezeichnet dann ein mangelhaftes Verständnis der Wirklichkeit, das die eigentliche und richtige Auffassung der Welt verfehlt. Abgesehen davon, dass eine so einfache Opposition von Schein und Tatsächlichkeit an sich bereits fragwürdig ist, verliert sie jegliche Berechtigung, sobald es um die Visualisierung vergangener und unsichtbarer Entitäten oder Sachverhalte geht: Hier ist von vorne herein keine (oder eine nur unvollständig vorhandene) optisch erfassbare Wirklichkeit gegeben, die dann einfach »abgebildet« werden könnte. Vielmehr stellen Visualisierungen und Imaginationen diese Wirklichkeit als eine genuin bildliche Qualität zuallererst her. Diese Formen ästhetischer Illusion sind daher auch von rein optischen Verfahren der Illusionsbildung zu unterscheiden, wie sie vor allem Gombrich beschrieben hat. Gombrich, der das »ewige Problem« der illusionistischen Bilder zu recht aufgegriffen hat, bleibt letztlich bei einem defizitären Verständnis des Phänomens stehen: etwas, das tatsächlich gar nicht der Fall ist, wird mit den Mitteln der Kunst als »Suggestion« oder »Augentäuschung« glaubhaft gemacht. Ist die Illusion durchschaut, hat sich der visuelle Effekt des Bildes erschöpft. Ästhetische Illusion im Sinne des geplanten Projekts bezeichnet jedoch – wie auch Einbildung und Fiktion – ein produktives und unerlässliches Vermögen der Welterfassung. Hier müssen stattdessen Kriterien einer genuinen Bildtheorie der Rekonstruktion entwickelt werden, die auch die formalen und spezifisch ästhetischen Qualitäten des Bildlichen (Formen der Narration, Farbigkeit/Schwarz-Weiß, Schärfe/Unschärfe, Altersspuren etc.) einbeziehen, statt Bilder und Visualisierungen – analog zum Medium der Schrift – als »historische Quellen« oder »Dokumente« zu betrachten und sie im Hinblick auf ihre bloße »Informativität« (wer? was? wann? wo?) zu taxieren. Die Herausforderung dieser Forschungen wird es sein, eine Geschichte und Theorie der historischen Einbildungskraft zu erarbeiten, die gerade das produktive Potenzial und die Unvermeidbarkeit der Fiktion, der Illusion und der Einbildungskraft herausarbeitet, statt diese Modi der Darstellung einmal mehr als Defizit, Trugbild, Suggestion oder Bedrohung einer vermeintlich unmittelbaren Form der Rekonstruktion zu ignorieren.


 

2.3 Ästhetik des Bildausdrucks: Expressivität und Evidenz

Die Frage nach der bildlichen Evidenz ist nicht zu trennen von der nach dem Ausdruck und der Expressivität des Bildes. Vorderhand ist damit die Frage nach Status, Funktion und Bedeutung von bildlichen Affektdarstellungen und weiter gehend nach der Spezifik ihrer medialen und diskursiven Konstruktion gemeint. Während in jüngerer Zeit die Frage nach der Affektdarstellung und künstlerisch gestalteten Ausdruckskonfiguration vor allem im Bereich der Literaturwissenschaften systematisch ins Auge gefasst und in Hinblick auf ihre komplexen, in textuellen Verfahren und sprachlichen Strukturen wie in Imaginationsdiskursen begründeten Konstitutionsbedingungen erörtert wurde, steht für die Kunst- und Bildwissenschaft ein derartiges Unternehmen noch aus. Dabei erscheint die Frage nach der medialen und diskursiven Konstruktion von Affekten und Gefühlen in der nichtsprachlichen Ausdrucksform des Bildes nicht nur aus disziplinärer Perspektive dringlich, rückt doch mit ihr die Konstellation zweier komplementär verschränkter Paradigmen in den Blick, die bei der Konzeptualisierung von ›emotional expression‹ und ›emotional experience‹ seit je virulent sind: einerseits die von der Forschung erst jüngst wieder problematisierte »Dominanz des Sprachparadigmas im Diskurs der und über die Gefühle« (Weigel 2004), andererseits die emphatische Annahme einer eigentlichen ›Sprachunabhängigkeit‹ der Gefühle, wie sie sich in der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts und ihrer Bestimmung einer gefühlsunmittelbaren Affektartikulation ebenso manifestiert wie etwa in den Neurowissenschaften und ihrem Bestreben, Einsicht in eine vorsprachlich bzw. nonverbal verfasste Unmittelbarkeit zwischen Organismus und Gefühl zu gewinnen. Die Geltungsrelevanz dieser Paradigmen und die Frage nach der Situierung von Gefühlen und der Konfiguration ihres Ausdrucks im Spannungsfeld von körperlichen Bedingungen, sprachlichen Zugriffen und kulturellen Semantisierungen will das geplante Vorhaben mit dem Ziel einer kritischen Überprüfung im Sinne (erstens) einer Historisierung am konkreten Material und (zweitens) einer systematischen Differenzierung in Hinblick auf die mediale Spezifik dieses Materials und auf dessen kulturelle und symbolische Codierungen durchführen.

Bislang konzentriert sich die kunst- bzw. bildwissenschaftliche Forschung im Rekurs auf die zeithistorische, durch die moralistische Affektdiskussion geprägte Kunsttheorie (Alberti, Leonardo, Lomazzo, Le Brun etc.) zumeist auf die Analyse einer Ausdruckssprache der Bildkünste, die ihre Parameter maßgeblich in der Lesbarkeit und semantischen Eindeutigkeit besitzt, also in der rhetorisch kodifizierten Kategorie der »perspicuitas« (›Durchsichtigkeit‹) des Bildes und seiner Ausdrucksfiguration hin auf einen ›dahinter‹ liegendes Gefühls- oder Leidenschaftssubstrat, und die den rhetorischen Ausdruck der Leidenschaften als Ausdruck des Bildes festlegt. Ausgangspunkt ist dabei zunächst die geläufige, bereits in der antiken Seelenlehre und Rhetorik begründete und bis in die frühe Neuzeit hinein tradierte Vorstellung, dass Affekte im Medium des gemalten Bildes wesentlich durch ihre Verkörperungen in Gebärden, in Gestik und in Mimik zur Anschauung gebracht werden, und dass sich in diesen verkörperlichten Ausdrucksformen die Vieldimensionalität von ›inneren‹ Gefühlen und Bewegungen ›veräußerlicht‹, dass also ›unsichtbare‹ psychische Kräfte im gestisch und mimisch gestalteten Körperausdruck ›sichtbar‹ und somit anschaulich fassbar werden. Dem Körper wird dieser Vorstellung zufolge die Bedeutung eines Ausdrucksmediums der Psyche (im Sinn einer ›expression of emotion‹) zugemessen, und zugleich dem Bild in linearer Entsprechung der Status einer introspektiven Darstellungs- bzw. Anschauungsform (im Sinn einer ›representation of emotion‹).

Mit dieser Vorstellung von einem bildlich anschaubaren Ausdruck verbindet sich jedoch in mehrfacher Hinsicht eine erhebliche Komplexität, ja Problematik. Sie betrifft zum einen das Modell des körperlichen Ausdrucks (›expression of emotion‹), also die Relation von ›innerer‹ Verfasstheit und ›äußerem‹ Ausdruck, insofern sich hinter dieser Relation eine unter religiösen, politischen und gesellschaftlichen Perspektiven vielfach kodierte und institutionalisierte, diskursiv je gefestigte oder auch destabilisierte Polarität etwa von ›Seele‹ und ›Leib‹, von Geist und ›Körper‹ verbirgt. Bilder des Körpers und seines Ausdrucks manifestieren sich also stets zugleich als bildliche Dispositive von bestimmten Identitätskonstruktionen und ihren jeweiligen Kodierungen (seien diese individuell oder kollektiv, seien sie kulturell oder geschlechtlich, religiös oder sozial fundiert). Die Bilder sind, nach Maßgabe dieser Taxonomie, zunächst und allererst ›representations of expressions‹, Darstellungen von Kodierungen, dergestalt dass sich die in bzw. hinter ihnen anvisierten ›emotions‹ zunächst vor allem in ihrem Status als mentale Phänomene oder als soziale bzw. kulturelle Konstruktionen fassen lassen. Die Rede vom ›Ausdruck der Bilder‹ schließt hier also die Frage nach kollektiv bestimmten »Rollenhaltungen« ein; nach Prinzipien der Affektrhetorik, die auf eine emotionale Involvierung und Affektübertragung an den Betrachter abzielen; nach einer Anthropologie der religiösen ›Natur‹ des Menschen, etc. Eine zusätzliche Brisanz erhält die Frage nach der Affektivität im Bild, wenn im 19. und 20. Jahrhundert mit Fotografie und Film neue Verfahren der Sichtbarmachung, aber auch der gezielten Erzeugung von Affekten in Erscheinung treten (etwa in der fotografischen Ikonographie einer »physiognomie mécanique« des Neurologen Duchenne de Boulogne, der »Iconographie de la Salpetrière« oder der ästhetischen und sozialen Konstruktion von ›Fotogenität‹ in der professionellen Atelierfotografie). Der Gesichtsausdruck verliert hier vollends seinen ›natürlichen‹ Status, insofern er als sich als komplexe Synthese aus subjektiver Empfindung, sozialer Konvention und medialer Aufzeichnungsbedingungen zu erkennen gibt.

Die Komplexität und Problematik der in Rede stehenden Vorstellung von einem ›bildlich anschaubaren Ausdruck‹ betrifft zum zweiten aber auch das bildtheoretisch fundierte Modell eines nach möglichst optimierter Realitätswiedergabe strebenden, mimesisgeprägten Darstellungsbegriffs. Diesem Darstellungsbegriff liegt der Gedanke von der imitatio naturae, also von der Wiedergabe des Menschen bzw. menschlichen Körpers in seiner ›natürlichen‹ Verfasstheit, als eine wesentliche Prämisse für die Vorstellung von einer bildlichen ›Naturalisierung‹ der Affekte zugrunde. Allerdings konstituiert sich der Ausdruck (›expression‹) der dargestellten Bildfiguren nicht nur durch Ikonographie und gegenständliche Motivgestalt des Bildes, sondern auch und in maßgeblicher Weise durch seine formale Struktur bzw. ästhetische Morphologie. Der Ausdruck des Bildes begründet sich demzufolge nicht nur in seiner Transparenz, sondern ebenso sehr in seiner Opazität.

Was sich vor diesem Hintergrund zum dritten abzeichnet, ist die in der Forschung bislang unausgeschöpfte Bedeutung, die sich für die Frage nach der bildlichen Affektdarstellung aus dem Zusammenhang zwischen dem dargestellten ›Körper‹ (in seiner komplexen Polarität zwischen inneren Bewegtheit bzw. äußeren Bewegung) und der medial bestimmten Wirklichkeit der Darstellung selbst, kurz: zwischen verbildlichtem Körper und dem Körper des Bildes ergibt.

 

(a) Evokative Bildevidenz: Die Ästhetik gemalter Musik

Exemplarisch soll die Frage nach dem Ausdruck des Bildes im Feld der Renaissancemalerei mit dem Fokus auf venezianische Musikdarstellungen untersucht werden. Damit wird eine intermediale Konstellation ins Auge gefasst, die deshalb so exemplarisch und gewinnbringend für das Projekt ist, weil sie zum einen zwei entschieden nonverbale Medien (Bild und Malerei vs. Ton und Musik) in Hinblick auf ihren medienspezifischen Affektausdruck und auf den damit verknüpften Evidenzeffekt analysieren und vergleichen lässt, und weil sich zum anderen die zeitgenössischen Diskursivierungen dieser medialen Differenz in besonderer Prägnanz erfassen und in ihren kunst- wie auch affekttheoretischen Prämissen und gattungspoetologischen Konsequenzen (etwa im Rahmen der Paragone-Debatte) beleuchten lassen. Gefragt wird unter anderem danach, wie die Malerei der medialen Alterität des musikalischen Affektausdrucks (d. h. seiner Unsichtbarkeit, Immaterialität, zeitlichen Transitorik etc.) durch Strategien einer regelrechten Inkorporierung begegnet und der Musik kompensatorisch die Gestalt eines »Körpers« zuweist (etwa den des Komponisten, des Musikers, des Instruments, der textlichen Notation etc.). Zentraler Ausgangspunkt der Untersuchung ist dabei die Annahme, dass die Malerei die Evidenz des musikalisch-klanglichen Affekts maßgeblich durch Verfahren der figürlichen Verkörperung erzielt, im selben Zug jedoch den medieneigenen, bildlich-visuellen Affekt immer weniger durch figürlich dargestellten Körperausdruck und seine rhetorische Codierung (Mimik, Gestik, Gebärde etc.), sondern vielmehr – in einem gegenläufigen Überbietungsimpuls – durch eine forcierte Performanz eigener medienspezifischer Morphologien und Phänomenwerte (Farbe, Malfaktur, Komposition, Schärfe-Unschärfe etc.) generiert. Der Rückbildung des musikalischen Affektausdrucks auf dargestellte »Musikkörper«, so die These, steht also die Freisetzung des bildlichen Affektausdrucks durch den eigenen »Bildkörper« der Malerei gegenüber. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die weiter reichende Frage, inwiefern der Wirklichkeit bildlicher Affektdarstellung und dem Prozess ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung in der frühen Neuzeit sowohl eine multisensuelle Aufladung (Klang und Blick, Sehen und Hören, Musik und Malerei) als auch eine monomediale Selbstprivilegierung (der Malerei vor der Musik) einschreibt. Und inwieweit erweist sich als wesentliches Signum dieser Einschreibungsprozesse die semiotisch wie auch rezeptionsästhetisch wirksame Verschiebung von der Repräsentation zur Präsenz, vom dargestellten Körper zum Körper des Bildes selbst, eine Verschiebung, in deren Vollzug die medialen Präsenzeffekte zur genuinen Manifestationsform des bildlichen Affektausdrucks werden?

 

(b) Erosionen bildlicher Affektrhetorik in der frühen Neuzeit

Die in Hinblick auf Musikdarstellungen der Renaissance zu untersuchende Frage nach der Malerei als einem doppelten Dispositiv der ästhetischen Affektverkörperung (Repräsentation vs. Präsenz) soll auch in einer zweiten Schwerpunktsetzung des Projekts verfolgt werden, in deren Mittelpunkt die bildliche Affektrhetorik bei Caravaggio und seiner Nachfolge und des Näheren die mit ihr sich vollziehende Erosion und Inversion der hergebrachten, humanistisch-rinascimentalen Bildrhetorik steht. Untersucht werden soll, wie sich die forciert naturalisierende, körperbetonte Bildsprache Caravaggios mit einer Strategie der regelrechten Ausstellung und markierten Inszenierung von Mimik, Gestik und Gebärde verbindet. Inwiefern generiert diese inhärente Paradoxie und Gegenstrebigkeit von Caravaggios Bildrhetorik eine unüberbrückbare Spannung, die den vorgeblich organisch konzipierten Begriff einer Naturalisierung der Bildwelt aufsprengt, ja systematisch unterläuft, und inwieweit schiebt sich diese Spannung im Auge des Betrachters als kategorialer Bruch zwischen die Eigentlichkeit des Körpers und die Uneigentlichkeit seiner Affekte? Dergestalt dass Affekte hier regelrecht als medial bedingte Präparate erscheinen, deren Sinn sich allein im Bild und in Bezug auf dessen ästhetisch codierte Wirklichkeit erfüllt. Dadurch dass die Wirklichkeit der Affekte so exponiert an die Bedingungen ihrer Erscheinung und ihrer Sichtbarkeit im Bild geknüpft sind, betreibt die Malerei, so eine Hypothese des geplanten Projektes, im eigenen, nonverbalen Medium eine Metareflexion über den Körperausdruck als eine komplexe Übersetzung psycho-physischer Vorgänge in eine kulturell codierte und medial konstruierte Bildsprache der Gefühle. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zugleich die bildgeschichtlich weiter gefasste Frage, inwieweit Caravaggio für die Herausbildung seiner Verfahren gezielt auf Motive aus dem Bilderkreis der  »Fünf Sinne« sowie auf die theatralischen Sujets der »pitture ridicule« des 16. Jahrhunderts zurückgreift, die affektbezogene Themen in affektbezogenen Darstellungen in Szene setzen und von ihm, wie es vorderhand scheint, nunmehr in ihrer affektrhetorischen Konsistenz invertiert bzw. dekonstruiert werden.

 

(c) Bildevidenz und Pathosformel

Vor dem Hintergrund dieser Untersuchungsperspektiven soll als ein weiterer Schwerpunktbereich der Begriff der »Pathosformel« und ihre methodische Geltungsrelevanz als bildwissenschaftliches und affekttheoretisches Konzept einer kritischen Hinterfragung unterzogen werden. Bekanntlich begründet sich der Begriff der Warburgschen Pathosformel aus einem psychohistorisch verankerten Konzept von der Funktion und Bedeutung energetischer Engramme, in die kollektive Erfahrungen und Leidenschaften eingeschrieben und sedimentiert sind, um auf eben diese Weise, d.h. als Traditionsbesitz eines sozial, politisch und kulturell breit diversifizierten Bildgedächtnisses fortzubestehen. Jedoch tendiert er, so der Ansatzpunkt des Vorhabens, in seiner konkreten bildanalytischen Anwendung dazu, die mediale Vielschichtigkeit des Bildes und damit die spezifische Komplexität seiner visuellen Ausdrucksformation und Affektartikulation maßgeblich auf die prägnanten Aspekte der Figuration und der Motivprägung zu reduzieren und andere Weisen der bildlichen Affektsteigerung, etwa solche, die in der schieren Faktur oder in der materiellen Spezifik des Darstellungsmediums und der hieraus generierten Semantik begründet sind, methodisch unterzuprivilegieren, zu marginalisieren oder gar aus der Analyse auszublenden. Nicht von ungefähr bilden gerade die venezianische Farbmalerei, die am weitreichendsten das Thema der Musikdarstellungen ausdifferenziert hat, sowie die Malerei Caravaggios blinde Flecken in Warburgs Bilderkosmos. Durch seinen Fokus auf diese von Warburg nicht berührten Bereiche will die Projektarbeit das methodische Defizit verdeutlichen, welches im Umstand begründet liegt, dass affektive Bewegtheit und lebendiges Pathos bei Warburg erst und gerade durch ihre Inversion und Reduktion zu einer  »Formel« und allererst als solche auf den theoretischen Begriff gebracht werden. Das Vorhaben fragt daher nach den methodische Limitierungen, die der Begriff der »Pathosformel«, insofern er ein Produkt der Sprache und ihrer Diskursivität ist, in sich birgt, und möchte ihm gegenüber andere begriffstheoretische Optionen, wie etwa diejenige des Palimpsests, gerade in Hinblick auf den »Affekthaushalt« des Bildes neu valorisieren.

 

(d) Bild und Gewalt: Evidenzen von Zeigen und Verbergen

Fragen der Bildwirkung und Expressivität stellen sich gegenwärtig in einem besonderen Maße auch im Bereich der medial zirkulierenden Bilder der Gewalt. Hier geht es gleichermaßen um die im Bild dargestellten Affekte sowie um die Affekte, die deren Betrachtung beim Rezipienten auslöst. Darstellungen von Gewalt prägen sich nachhaltig und mit großer Intensität ein, so dass ihre Zurschaustellung von einer anhaltenden Diskussion über den Nutzen und Nachteil des Zeigens oder Nicht-Zeigens begleitet wird. Was darf man zeigen und was nicht? Wo soll man es zeigen, wem und wie lange? Allgemeingültige Vorschriften innerhalb der journalistischen Praxis gibt es hier ebenso wenig wie eine verbindliche Ethik des Zumutbaren oder eindeutige juristische Regelungen. Aber auch im Bereich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung scheint die Konfrontation mit affektbeladenen Bildern an die Grenzen etablierter Beschreibungskategorien zu führen. Gerade diese Unsicherheit im Umgang mit Bildern der Gewalt beweist ihren prekären Status und die Dringlichkeit ihrer Befragung. Welche Eigenschaften und Wirkungen der Bilder sind es, die ihre Analyse so prekär erscheinen lassen? Welche latente Unterstellung von Referenz, von Welthaltigkeit und Präsenz des Dargestellten liegt der Rezeption dieser Bilder – trotz aller berechtigten Einsicht in ihre kulturelle Konstruiertheit – zugrunde?

Soziologische, psychologische oder neurowissenschaftliche Untersuchungen konzentrieren sich in der Regel auf subjektiv empfundene Wirkungen der Bilder oder versuchen deren Funktion durch rein empirische oder statistische Analysen in den Blick zu bekommen. Die konstitutive und bildspezifische Dimension des Phänomens kommt bei dieser rein auf die Rezeption ausgerichteten Forschung also gerade nicht in Betracht. Im Übrigen erscheint es aus der Perspektive des geplanten Projekts fraglich, Wirkungen, die sich einzig in der Dynamik und Wechselwirkung zwischen Bild und Rezeption, visueller Evidenz und Erfahrung entfalten, mit empirischen Methoden messen zu wollen. In der historischen und kunsthistorischen Forschung wurden Gewaltbilder vor allem durch Methoden der politischen Ikonographie sowie durch ideologiekritische und diskursanalytische Ansätze untersucht. Bildlichkeit wird in diesen Ansätzen vor allem als Machtstrategie und Ausdruck wechselnder politischer Interessen und Absichten verstanden. Die Kolleg-Forschergruppe möchte die Ergebnisse dieser Forschungen aufgreifen, zugleich aber an einem umfassenderen Konzept der Gewaltbilder arbeiten, das deren Wirkungsmacht nicht nur als Folge willentlicher Inszenierung, Instrumentalisierung und Steuerung begreift, sondern gerade auch ihre affektive Dimension, die unkontrollierbaren und oftmals unvorhersehbaren Wirkungen der Bilder reflektiert. Welche Formen visueller Evidenz artikulieren sich gerade in dem Impuls, Bilder aus politischen, religiösen oder ethischen Gründen nicht zu zeigen? Welche grundlegende Bedeutung kommt hier der Empathie als einer nur schwer diskursivierbaren Form der Bildrezeption zu? Diese Fragestellung eröffnet die Möglichkeit, das alte Problem des Bildverbots mit Blick auf die Bedingungen gegenwärtiger Bildzirkulation in den Medien noch einmal ganz neu zu denken. Denn auch für diese Bilder gilt jene Dialektik, die für die klassischen Formen des Bilderverbots zu recht hervorgehoben wurde: gerade im Willen, Bilder nicht zu zeigen, sie zu verbergen oder nicht anschauen zu wollen, artikuliert sich indirekt das Eingeständnis ihrer Wirkungsmacht. So stellt sich die Frage des Bilderverbots gegenwärtig in einer unerwarteten Brisanz: Wie kommt es, dass in einer Zeit, in der sich die Einsicht in die Konstruiertheit, Künstlichkeit und (digitale) Manipulierbarkeit medial vermittelter Bilder allgemein durchgesetzt hat und jeder Anspruch der Bilder auf Wirklichkeit und Präsenz angeblich obsolet geworden ist, gleichwohl einzelne Bilder oder Bildgruppen (Hinrichtungsvideos, Kriegsaufnahmen, Darstellungen extremer Emotionalität) aus der Zirkulation heraus gehalten werden sollen, da man ihre Betrachtung als unzumutbar empfindet? Welche Mechanismen führen schließlich dazu, dass die meisten dieser Bilder (etwa im Internet) dann doch zu sehen sind? Hier ist nach den neuen und spezifischen Erscheinungsformen einer Sichtbarkeit zu fragen, die sich nicht in der einfachen Alternative Zeigen/Nicht-Zeigen erschöpft, sondern hybride Formen der Gleichzeitigkeit von Zeigen und Verbergen, Sichtbarmachung und Entzug praktizieren (etwa durch partielles Beschneiden der Bilder, durch Reduktion filmischer Sequenzen auf stills, durch Unterschlagen der Tonspur oder die ausführliche sprachliche Beschreibung und also imaginäre Evokation von Bildern, die dann aber nicht gezeigt werden). Während die historischen Formen des Bilderverbots und des Ikonoklasmus gut erforscht sind und neuere Forschungen auch den Bereich des islamischen Bilderverbots betreffen, gibt es bislang nur sehr wenige Publikationen zur aktuellen Brisanz dieser Fragen.

In diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion um die Undarstellbarkeit der Shoah noch einmal neu und anders zu führen. So ist in dieser Auseinandersetzung beispielsweise völlig ungeklärt, ob das Diktum der Undarstellbarkeit auf der These beruht, bestimmte Ereignisse entzögen sich per se der Darstellbarkeit (kategorische Unmöglichkeit der Repräsentation) oder auf der These, eine solche Darstellung sei zwar – wie jede andere Darstellung auch – prinzipiell möglich, aber aus ethischen oder moralischen Gründen verwerflich (Unzulässigkeit der Repräsentation). Beide Positionen basieren auf gänzlich ungeklärten bild- und rezeptionsästhetischen Prämissen, die in der Analyse konkreter Fallstudien (etwa Fotografien aus Konzentrationslagern) sowie in einer kritischen Relektüre der einschlägigen theoretischen Positionen (Adorno, Lanzmann, Didi-Huberman) zu untersuchen wären. Auch die Frage der ästhetischen Verfasstheit der Bilder stellt sich im Fall der Gewaltbilder mit einer besonderen Dringlichkeit. Denn einerseits unterliegen auch fotografische und filmische Aufzeichnungen extremer Gewalt unweigerlich einer spezifischen Ästhetik, andererseits ist die visuelle Schlagkraft des Dargestellten so dominant, dass eine rein formalästhetische oder ikonographische Betrachtung die visuelle Evidenz und Präsenz des Dargestellten möglicherweise verfehlt. Wo verläuft hier also die Grenze zwischen »Ästhetik« und »Ästhetisierung« der Gewalt? In diesem Zusammenhang ist auch die von Barthes aufgeworfene Frage, inwieweit eine gestalterische (Über-) Codierung und Semantisierung von »Schockbildern« ihr affektives Potential möglicherweise domestiziert von ungebrochener Aktualität. Sehr viel versprechend wäre hier beispielsweise eine systematische Analyse der seit Jahrzehnten stattfindenden Auszeichnungen aktueller Pressefotografien (»World Press Award« etc.), bei der Aufnahmen aus aktuellen Krisenschauplätzen unter formalen Geschichtspunkten als »bestes Foto des Jahres« prämiert werden. Wann aber ist ein Kriegsfoto ›gut gelungen‹? Welche alternativen Beschreibungskategorien können hier gefunden werden? Auch die kunsthistorische Tradition des Bildervergleichs (»Vergleichendes Sehen«) steht angesichts von Bildern extremer Gewalt vor einer Herausforderung. Denn wenn einerseits formale und motivische Analogien zwischen Bildern von Kriegsopfern und Motiven christlicher Ikonographie nicht zu leugnen sind, so ist doch grundsätzlich danach zu fragen, inwieweit eine weitgehend an der europäischen Malerei geschulte Bildhermeneutik die visuelle Evidenz fotografischer und filmischer Gewaltdarstellungen nicht zwangsläufig verfehlen muss.

 

 

2.4 Ästhetische Reflexivität: Das Wissen und die Evidenz der Bilder

Dass Bilder sich durch ihre Darstellung, in welcher Form auch immer, auf eine außer ihnen liegende Wirklichkeit beziehen, bedeutet zugleich, dass sie von dieser Wirklichkeit verschieden sind. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitsdifferenz bilden zwei Seiten eines Verhältnisses, das sich in der je konkreten ästhetischen Ausformung der Bilder in vielfältiger Weise als dynamische Oszillation aus Entgegensetzung und Zusammenfall manifestiert. Damit ist bereits gekennzeichnet, was der Begriff der Reflexivität in seiner Anwendung auf Bilder impliziert. Denn meint die Rede von der Reflexion einerseits so viel wie ›etwas betrachten‹ oder ›über etwas nachdenken‹, so ist andererseits darin zugleich, im Sinne von ›Re-Flexion‹, die Bedeutung von Rückbezüglichkeit auf sich selbst enthalten. Diesen doppelten Aspekt von Reflexivität, demzufolge das Bild, indem es etwas repräsentieren will, unabdingbar auch sich selbst präsentiert, hat Marin treffend als seine Verschränkung von fremdbezüglicher Transparenz und selbstbezüglicher Opazität beschrieben.

Dass Bilder theoriehaltig sind und in diesem Sinne eine eigene Reflexivität verkörpern, ist zentral für die Frage, wie sie aus ihrer Bedingung einer medialen Vermittlung von Wirklichkeit Evidenz erzeugen. Die Kolleg-Forschergruppe will diesen Zusammenhang systematisch in seinen historischen und ästhetischen Bezügen in den Blick nehmen. Sie möchte sich damit nicht zuletzt gegen ein verbreitetes Narrativ wenden, demzufolge sich bildliche Reflexivität einer Entwicklung verdanke, die allererst in der Moderne mit der vermeintlichen Befreiung der Kunst von ihren externen religiösen und politischen Funktionen und der Etablierung eigener Normen und Regeln vollzogen worden sei. Bedenkt man etwa, dass sie bereits in der bildertheologischen Medientheorie des Mittelalters und ihrer vielfältigen Konzeptualisierung des bildlichen Präsenz-Absenz-Verhältnisses, wie sie sich besonders prominent etwa in den Debatten um das Christusbild manifestiert, kategorial verankert ist, wird klar, dass die Geschichte bildlicher Reflexivität anders und komplexer zu perspektivieren ist.

 

(a) Ästhetische Reflexivität und mimetische Repräsentation in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Das Vorhaben setzt an dieser Sachlage an. So will es einen Fokus auf die Frage richten, ob und inwiefern die Doppelung des bildlichen Dispositivs zwar eine weit in die byzantinische und mittelalterliche Zeit und noch darüber hinaus zurückreichende Geschichte besitzt, doch erst im Spätmittelalter einem kategorial markierbaren und nachhaltig wirksamen Veränderungsprozess seiner ästhetischen Prämissen unterliegt. Dieser Prozess begründet sich, so die Ausgangsthese, einerseits in den in umfassender Weise gewandelten sozialen, religiösen, kulturellen und politischen Ansprüchen, die sich mit den Bildern verknüpfen, andererseits mit den neuen und auf lange hin folgewirksamen Mimesisbedingungen der Bilder, wie sie sich besonders seit dem 13. und 14. Jahrhundert allenthalben abzeichnen. Das Vorhaben will untersuchen, welche Verschiebungen formaler wie semantischer Natur sich im doppelsinnigen Bezug von Repräsentation und Präsenz vollzogen, als mit dem beschleunigten Zugewinn einer »mimetischen Durchsichtigkeit« (Marin) des Bildes zugleich seine Markierung als Medium der Präsentation zu schwinden begann. Je stärker sich das Bild als Nachahmung der sichtbaren Wirklichkeit, als ein ›Fenster‹ auf die gegenständlich anschaubare Welt im albertischen Sinne konstituierte, desto weniger eröffnete es die unmittelbare Aussicht auf eine metabildliche Realität, sei diese religiöser oder rechtlicher, ethischer oder politischer Natur. Inwieweit verlangte die Spannung, die sich hier aus zwei unterschiedlichen Anforderungen an das Bild ergab, nach Lösungsformen im Horizont einer ästhetischen Praxis, die die Problematisierung der Repräsentation und des intentionalen Status des Bildes selbst zu einem produktiven Moment der Darstellung erhob? Und welchen Konsequenzen unterlag dieser Prozess, als in der Folge mit der Renaissance, mit ihrem forcierten Naturnachahmungsdiskurs und ihren akut verschärften Mimesisansprüchen an das Bild, auch das Verständnis von der doppelsinnigen Medialität des Bildes als zentrale Kategorie einer zunehmend selbstreflexiven Gattungspoetik der Malerei produktiv wurde? Inwieweit wurde die Malerei unter diesen Bedingungen zu einer Wissensform und zu einer ästhetisch fundierten Matrix des menschlichen Verstehens und Deutens von Wirklichkeit, und dies auf der Basis einer wachsend mit den Bildern verknüpften wissenschaftlichen (Perspektive, Anatomie etc.) und ethischen Kompetenz (Affektlehre)? Und inwiefern wurde sie im selben Zug des Anspruchs auf eine Verankerung der Darstellung in einer objektiven, prästabilierten ›Wirklichkeit‹ enthoben, um im Zeichen ihrer genuinen Reflexivität die Alterität einer anderen, ästhetischen Evidenz von ›Wirklichkeit‹ zu etablieren?

 

(b) Epistemische und ästhetische Dimensionen der Evidenz: Das Wissen der Bilder

Bilder stellen spezifische Formate des Wissens dar. Dieses Wissen ist jedoch nicht als isolierbare Information oder abrufbarer Text in ihnen ›enthalten‹, vielmehr ist es untrennbar an die besonderen Formen seiner visuellen Darstellung, an historisch sich wandelnde Verfahren der Visualisierung sowie der Rezeption gebunden. Trotz der immer wieder zu recht erhobenen Forderung, Bilder nicht als bloße Verdopplung und »Illustration« eines bereits außerhalb ihrer selbst vorhandenen Wissens zu beschreiben, ist die Erforschung dieses spezifischen Wissenspotentials der Bilder erst in den Anfängen. Der Zusammenhang von Bildästhetik und Wissen stellt die Forschung vor besondere Herausforderungen. Denn er wirft die grundlegende Frage auf, wie sich die epistemische Dimension des Bildlichen in ihrer genuinen, nicht-verbalen Struktur angemessen beschreiben lässt. Das Wissen der Bilder ist primär bildlich verfasst und kann deshalb nicht wie ein geschriebener Text gelesen und gedeutet werden. Wer oder was ist also Träger oder Vermittler bildlichen Wissens? Wie artikuliert sich Wissen in Bildern und wo lässt es sich im Bild lokalisieren? Ein Teil der Forschung hat diese Fragen dadurch zu lösen versucht, dass den Bilder autonome Eigenschaften und quasi-intellektuelle Fähigkeiten zugeschrieben wurden: demnach ›denken‹ Bilder, sie kommunizieren untereinander und verfügen über eine von Betrachtern und Herstellern scheinbar unabhängige Intelligibilität oder erreichen den Status autonomer Subjekte. Zwar insistiert dieser Ansatz zu recht auf der Eigengesetzlichkeit bildlicher Evidenz, versucht diese Eigengesetzlichkeit aber gerade nicht durch genuin bildliche Beschreibungskategorien zu erklären, sondern durch eine Anthropologisierung der Bilder, die sie zu quasi-menschlichen Akteuren erklärt, ihre besondere Wirkung und Funktion dadurch aber gerade verfehlt. Auch Versuche, eine kategorische Trennung zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Bildern vorzunehmen, indem man etwa »starke« und »mehrdeutige« Kunstwerke von den »schwachen« und vermeintlich »eindeutigen« Bildern der Wissenschaften unterscheidet , können den komplexen Zusammenhängen von Bildästhetik und Wissen nicht gerecht werden. Problematisch sind auch Versuche, wissenschaftliche Bilder (Doppelhelix, »Apfelmännchen« etc.) in Kategorien wie Schönheit, Symmetrie und Harmonie zu beschreiben, da den Bildern hier eine rein kompensatorische Rolle zugeschrieben wird: was sie im Bereich der Wissensgenerierung angeblich nicht leisten, sollen sie durch ihren schönen Schein ästhetisch kompensieren. »Bilderwissen« lässt sich auch nicht auf eine scheinbar problemlos gegebene »Anschaulichkeit« der Bilder reduzieren (M. Kemp). Im Bereich der experimentellen Wissenschaften entfalten Visualisierungen ihr epistemisches Potential im Gegenteil oftmals gerade durch den hohen Grad an Unanschaulichkeit und Kommentarbedürftigkeit, mit dem sie in Erscheinung treten. Statt längst vertrautes Wissen ›abzubilden‹, erfüllen Visualisierungen hier also eher die Funktion, neues Wissen zuallererst zu ermöglichen.

So ist die Forschung insgesamt auch hinsichtlich des epistemischen Status der Bilder durch eine unproduktive Polarisierung charakterisiert: Während man das Wissen der Bilder einerseits nivelliert, es als illustrative Verdopplung längst bekannter Sachverhalte unterschätzt oder als bloße ästhetische Zutat verbucht, wird es andererseits zu einer autonomen, vom Menschen unabhängig gedachten Entität überhöht. Das ästhetisch konfigurierte Wissen der Bilder wird aber weder durch Zuschreibungen von außen erst ›hergestellt‹ oder ihnen durch soziale Akte lediglich zugesprochen, noch ist es als betrachterunabhängige Eigenschaft oder Gehalt in ihnen bereits vorhanden. Auch hier besteht die aktuelle Herausforderung deshalb darin, etablierte konstruktivistische und ontologische Engführungen zu umgehen und das Wissenspotential der Bilder gerade in der dynamischen und historisch sich wandelnden Vermittlung zwischen konkreter Bildgestalt und Rezeption zur Darstellung zu bringen.

Eine der Grundannahmen des Projekts, wonach das Wissen der Bilder selbst bildlich verfasst ist, erfordert in diesem Sinne eine grundlegende Neubestimmung bildspezifischer Erscheinungsformen und ihrer Wahrnehmung. Dazu gehört beispielsweise die zentrale Kategorie der Farbe. Gibt es eine spezifische Farbigkeit visueller Evidenz? Es ist kein Zufall, dass die Frage nach der fotografischen und filmischen Zeugnisfunktion der Bilder zu einem Zeitpunkt an Brisanz gewinnt, an dem in den Archiven in ungeahntem Ausmaß farbige Aufnahmen aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert auftauchen (Albert Kahns umfassendes Projekt eines Archive de la planète, zeithistorische Dokumentaraufnahmen des 1. und 2. Weltkriegs). Die Farbe tritt hier unverhofft in einen Bild- und Vorstellungsraum ein, der im kollektiven Gedächtnis seit Jahrzehnten durch Fotografien und Filme in Schwarz/Weiß besetzt war. Welche ästhetische und epistemische Funktion kommt hier also der Farbe zu? Während einige Autoren den Farbaufnahmen umstandslos eine »größere Wirklichkeitsnähe« attestieren lässt sich im Studium der Bilder umgekehrt auch eine irritierende Nähe zur vertrauten Farbästhetik des historischen Spielfilms konstatieren. Inwieweit ist die visuelle Evidenz, der Anschein von Authentizität und Zeugenschaft, also auch an bildspezifische Elemente wie die Farbe gebunden bzw. wird durch diese modifiziert? Eine ähnlich konstitutive Rolle kommt im Fall historischer Foto- und Filmaufnahmen auch visuellen Effekten wie Unschärfe, Fehlbelichtung oder der Sichtbarkeit von Alterspuren und Materialfehlern zu. Gerade durch den partiellen Entzug unmittelbarer Sichtbarkeit und deren Ersetzung durch Imagination wird der Eindruck des Authentischen noch erhöht. Erst durch die Erforschung solcher bildspezifischer Kategorien wird einsichtig, was Bilder als Bilder leisten, wie sie also auf der Grundlage formaler und medienspezifischer Eigenschaften an der Herstellung von Wissen beteiligt sind.

Im genannten Zusammenhang historischer Dokumentaraufnahmen ist auch der Status des Bildes als Zeugnis und Beweis präziser zu bestimmen. Ein wichtiger Aspekt wird hierbei auch die Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Tradition des englischen Begriffs »evidence« (als »Beleg«, »Beweis«, »Beweisführung«, aber auch »Beweisstück«) sein. So ist beispielsweise im Bereich der Fotografie – entgegen der ersten Konzeptualisierungen des Mediums (Talbot 1844), aber auch entgegen fotografiehistorischer Positionen (Frizot 1998) – davon auszugehen, dass die bloße Existenz einer Fotografie noch keinen Beweis darstellt. Um seine Beweisfunktion zu entfalten, muss auch ein mechanisch hergestelltes Bild ausgelegt und durch zusätzliche Verfahren der Evidenzsicherung (Bildlegenden, Augenzeugenberichte etc.) angereichert werden. Hier ist – anders als die in der Forschung dominierende Auffassung suggeriert – zu zeigen, dass eine solche Pluralität und Koexistenz von Evidenzverfahren keine Schwächung des Bildes darstellt, sondern dessen besonderes epistemisches Potential mitträgt und zuallererst ermöglicht.

 

(c) Interpikturale Verfahren der Selbstreflexivität

Neben diesen Formen einer ästhetisch verfassten Generierung von Wissen über außerbildliche Wirklichkeiten gibt es aber auch eine Art des Wissens der Bilder über sich selbst. Bilder beziehen sich nicht nur auf Außerbildliches, sondern auch auf sich selbst sowie auf andere Bilder, indem sie diese zitieren oder kommentieren. Diese Form des Kommentars ist jedoch abermals nicht sprachlicher, sondern bildlicher Natur und bedarf deshalb auch einer spezifischen und noch zu entwickelnden Methodik. Die Forschung zu diesem diffizilen Themenfeld ist bislang kaum konturiert und äußerst unsystematisch. So wird beispielsweise in der Regel nicht zwischen »Selbstreproduktion« (etwa im Sinne einander folgender Kunststile), bloßer »Selbstreferenz« (im Sinne einer ikongraphischen Thematisierung des Bildes im Bild oder allegorischer Darstellungen der Malerei) und der sehr viel komplexeren Funktion einer genuinen »Selbstreflexivität« (im Sinne eines ästhetischen oder gar intellegiblen Verfahrens) unterschieden. Während frühere Forschungsansätze ihren Ausgang hier zu recht an konkreten historischen Konstellationen – wie beispielsweise der Etablierung des Tafelbildes – genommen haben, ist die Kategorie der Selbstreflexivität überdies mittlerweile zu einer unspezifischen und scheinbar frei verfügbaren Kategorie des Bildes im allgemeinen geworden. Insbesondere die Forschungen zur künstlerischen Avantgarde und die ihnen oftmals unterlegte Teleologie einer sich ständig überbietenden Negation von Referenz und einer auf diese Weise angeblich immer stärker zu ›sich selbst‹ kommenden Malerei haben diese Tendenz verstärkt. Die essentielle Kategorie der bildlichen Selbstreflexivität droht auf diese Weise zu einer unspezifischen Diskursfigur zu werden, die sich Bildern nach Belieben zu- oder abschreiben lässt. Auf der anderen Seite wird hinsichtlich dieser Thematik oftmals das philosophisch tradierte Verständnis von Selbstreflexivität als einem Innewerden des denkenden Subjekts auf sein eigenes Denken kritiklos auf die ganz anders geartete Wirkungsweise und Funktion materiell basierter Bilder übertragen. Bilder sind aber keine Subjekte im Sinne der Transzendentalphilosophie. Trotzdem muss an der Möglichkeit eines ›visuellen Denkens‹ festgehalten werden, will man Bilder nicht auf ihre reine Abbildfunktion reduzieren. Während im Bereich der Schrift differenzierte Untersuchungen vorliegen, ist die Erforschung der Selbstreflexivität im Bereich der Bilder erst in den Anfängen. Wie ist es möglich, dass sich ein Bild auf ein anderes bezieht? Können Bilder sich wechselseitig verneinen? Wie lassen sich Bilder (etwa im Bereich ihrer politischen Inszenierung) gegeneinander mobilisieren? Sind alle Bilder per se bereits selbstreflexiv? Oder bedarf es der Entwicklung bestimmter Kriterien, um verschiedene ›Grade‹ von Reflexivität sowie kategorische Unterschiede zwischen selbstreflexiven und nicht-reflexiven Bildern festzumachen? Auch hier sind Kriterien einer Bildkritik zu entwickeln, die Selbstreflexivität nicht als den Bildern schon fraglos innewohnende Eigenschaft begreift, sondern sie ausgehend vom Bild, aber unter aktiver Einbeziehung der Funktion des Betrachters zu verstehen versucht. Zudem ist der beschriebenen Tendenz zur Ontologisierung des Bildes mit einer fundierten Historisierung des selbstreflexiven Potentials der Bilder zu begegnen.

 

(d) Produktionsästhetik und Evidenzgenese

Wenn das Wissen der Bilder und die Art und Weise, wie sie Evidenz erzeugen, selbst immer bildlich verfasst sind und daher nicht auf die Logik einer ausschließlich diskursiven Bestimmung reduziert werden können, dann kommt auch der Faktur des Bildes, seiner materiellen Ausgestaltung und dem Prozess seiner Entstehung eine zentrale Bedeutung zu. Daher sollen die Strukturen und Verfahren visueller Evidenz aus produktionsästhetischer Perspektive darauf hin betrachtet werden, wie ästhetische Evidenz im Werkprozess des Bildes in den unterschiedlichen historischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Kontexten jeweils konkret erzeugt wird. Mit dieser Fragestellung erfolgt auch eine Umorientierung vom Werk bzw. Objekt als feststehende Entität – eine Vorstellung, die vielen bildwissenschaftlichen Untersuchungen implizit zugrunde liegt – hin zu einem prozessbasierten Werkverständnis, wie es in der Performativitätstheorie schon länger (Fischer-Lichte) und jüngst auch aus einer konstruktivistischen Neupositionierung heraus entwickelt wurde, dem zufolge Objekte, Zustände, Sachverhalte, mithin die Wirklichkeit, nicht mehr statisch, sondern dynamisch als Ergebnisse von Produktions- und Wahrnehmungsprozessen aufzufassen seien (Schmidt).

In Bezug auf Kunstwerke soll der Werkprozess als ein Verfahren untersucht werden, das an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, zwischen künstlerischer Imagination und der Wirklichkeit, zwischen Künstlerwissen und handwerklicher Ausführung operiert. Zwar gehört die Analyse des Werkprozesses mit seinen Entwurfsskizzen, vorbereitenden Zeichnungen und Pentimenti zu den klassischen kunsthistorischen Aufgabenbereichen, doch erst vor wenigen Jahren wurde damit begonnen, Modelle und Formen des Schaffensprozesses theoretisch zu reflektieren und zu systematisieren. Auch für die im Werkprozess verwendeten Materialien, Kompositions-, Bild- und Stilformen wurden erst in jüngerer Zeit methodische Ansätze entwickelt, die das komplexe Gefüge der bildlichen Faktur auch im Hinblick auf semantische Kodierungen und strategische Funktionalisierung betrachten. Und schließlich sind auch Fragen nach der ästhetischen Transformation der Wirklichkeit im Entstehungsprozess eines Werkes, nach der sich verändernden Relation zwischen der sinnlichen Präsenz des Materials und seiner Repräsentationsfunktion im Bild, erst ansatzweise untersucht worden. Die Entwicklung eines solchen Theorierahmens für den künstlerischen Schaffensprozess blieb bisher, mit wenigen Ausnahmen, zudem begrenzt auf die moderne und zeitgenössische Kunst.

Hier setzt das Vorhaben an, dessen Ziel es ist, die genannten methodischen Ansätze zur Produktionsästhetik über den engeren zeitlichen Rahmen hinaus in eine historische Dimension zu bringen und exemplarisch für die Verfahren der visuellen Evidenzgenese anzuwenden. Zu einer zentralen Instanz wird dabei das Wissen und Selbstverständnis des Künstlers, der als Produzent einerseits die Werkgenese initiiert und steuert, andererseits aber auch der Widerständigkeit des Materials, des Stils und der Form ausgesetzt ist. Denn – ebenso wie das Bild nicht darin aufgeht, diskursives Instrument zu sein – verfügen auch Stil, Form und Material über einen spezifischen Eigenwert, die der Künstler im Schaffensprozess für das Werk und seine Plausibilität operationalisierbar machen muss. Um diese Spannung und die individuellen Lösungen für ein einzelnes Werk in einem bestimmten Kontext konkreter greifen zu können, sollen die verschiedenen Aspekte des epistemologischen Künstlerwissens mit der praktischen Erfahrung und Arbeit des Künstlers im Akt der Bildfindung korreliert und dabei sowohl die Bedeutung innerer Bilder des Künstlers als auch das Verhältnis von äußerer Wirklichkeit und ihrer Repräsentation im Bild für den Schaffensprozess berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, wie und wo sich innerhalb des Werkprozesses eine intentionale, gezielt verfolgte oder aber unbeabsichtigte, zufällige Evidenz des Werkes einstellt.