Workshop der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik mit Peter Parshall (Washington).
Berlin, 29.10.2013
Den Ausgangspunkt für die Überlegungen des Kunsthistorikers Peter Parshall zu den zwei erhaltenen Fassungen des „Turmbaus zu Babel“ von Pieter Bruegel dem Älteren bildete einerseits das Fehlen eines Katastrophenbegriffs im Denken der Frühen Neuzeit, die unerklärliche Verwerfungen als Nebeneffekte des Fortganges der christlichen Eschatologie wertete. Einen zweiten Ausgangspunkt stellten die Bildkonventionen der Bruegel-Zeit dar, die – prima vista – der Darstellung zeitgenössischer Ereignisse keinen Raum boten. Malerei und Grafik hatten sich vorwiegend auf historische Szenen der Geschichte oder der christlichen Bilderwelt zu beschränken –Kritik und Kommentare zu herrschenden Zuständen waren einzig über den Umweg der Einkleidung in kanonische Ikonografien und historische Exempla möglich.
Beide heute fremdartig scheinenden Aspekte der Zeit Bruegels kommen in dessen zwei erhaltenen Fassungen des Turmbaus zu Babel zum Tragen. Dass Bruegel sich dem Sujet insgesamt drei Mal annahm – die früheste Fassung ist verloren – zeigt bereits an, dass es für den Künstler eine besondere Bedeutung besaß.
In den erhaltenen Fassungen, heute in Wien (1563) und Rotterdam (1567/68) aufbewahrt, stellt Bruegel den Turm jeweils im Zustand des Aufbaus durch unzählige Handwerker und Arbeiter dar. Das Gebäude zeigt sich weder als vollendet, noch im Augenblick seiner Zerstörung oder danach.
Die betonte Darstellung der emsig zusammenarbeitenden Menschen auf der Baustelle der bienenstockartig strukturierten Turmarchitekturen legt zudem nahe, dass die Sprachverwirrung in beiden Fassungen erst bevorsteht; mit ihr sollte die Diaspora und damit die „menschliche Katastrophe“ eingeleitet werden. Während die Arbeitsamkeit in der Wiener Fassung besonders sichtbar wird und König Nimrod im Vordergrund als Beobachter des Baufortschritts gegeben ist, verschiebt sich der Akzent in der späteren Rotterdamer Fassung auf die schiere Monumentalität des Turmes, vor der das Volk von Arbeitern auf mikroskopische Größe zusammenschrumpft. Die in der Wiener Fassung bereits angelegte Doppelbödigkeit von minutiöser Darstellung zeitgenössischer Handwerkspraxis und Arbeitsbewältigung einerseits und ihrer Vergeblichkeit im Angesicht der vom Betrachter antizipierten Zerstörung andererseits wird in der späteren Fassung so noch gesteigert.
Damit lassen beide Fassungen den Blick des Betrachters zwischen der Gesamtbetrachtung des Turmes und der zahllosen menschlichen Einzelhandlungen ebenso oszillieren, wie zwischen herrschender Routine und bevorstehender Katastrophe, zwischen biblischer Geschichte und ihrer Verlagerung in die niederländische Landschaft, zwischen mythischer Vergangenheit und der Gegenwart des 16. Jahrhunderts. Räumliche Verlagerung, zeitliche Verwirrung und eine ewige Gegenwart in pikturaler Präsenz beherrschen die Bildfindungen Bruegels.
So referenzieren die Fassungen des Turmbaus zu Babel trotz ihrer konzeptionellen Unterschiede und trotz der zeitlichen Entrücktheit der biblischen Begebenheit durch ihre Bezüge zur Alltagswelt die politische Situation in den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, so die These Parshalls. Über das Dargestellte hinaus verweisen beide Fassungen auf die bevorstehende Sprachverwirrung, die Bruegel zu seiner Zeit erneut in Form der religiösen Spaltung und unvereinbaren Reformbewegungen, sowie der disziplinären Differenzierung der Wissenschaften und Künste bedrohlich in vollem Gange erschienen sein muss.
In der Diskussion wurden insbesondere Momente des Oszillierens thematisiert. So schwanke der Zustand des Bauwerks bei der Betrachtung zwischen Konstruktion und Destruktion, zwischen der überwältigenden architektonischen Gesamtansicht des Turms und den zahllosen mikrokosmischen Narrationen von handwerklicher Tätigkeit und Alltagsbeobachtungen. In ihrer – wenn auch koordiniert wirkenden – Verteilung auf kleine Gruppen sei es dieser Aktionismus, der bereits auf die bevorstehende Sprachverwirrung verweise. Ein weiteres Moment der Oszillation sei auch im sich nach oben schraubenden Turm selbst angelegt, indem die Spirale sowohl eine Figur dramatischer Beschleunigung in ihrer Bewegung nach innen, als auch der räumlichen Ausbreitung in ihrer Bewegung nach außen darstelle. So scheine sich das Wachstum des Turms aus einer Art Strudel zu speisen, dessen Anziehung die gesamte Umgebung erfasse. Zugleich lasse die für den Betrachter wahrnehmbare Schräge des Turms, die aus dem spiralförmig umlaufenden Rampenweg resultiere bereits ein Kippen der Architektur und ihre Zerstörung antizipieren. In der Entscheidung, nicht den Moment der Zerstörung des Turms zu zeigen, sondern diese lediglich mittelbar anzudeuten liege das kontinuierlich katastrophische Moment des Bildes begründet. Der Turmbau werde damit zum Sinnbild andauernder Vergeblichkeit, die sich in der Schräge des Turms ebenso abzeichne, wie in der Vielzahl unverbundener Tätigkeiten und Arbeiten an seinem Bau, in der ruinenhaften Anmutung der Baustelle und letztlich auch in der zeitlosen Präsenz der Szene, die aus der Verlagerung des biblischen Mythos in den zeitgenössischen Alltag des 16. Jahrhunderts entstehe. Ein Moment des Bruchs werde durch die Signatur Bruegels auf einem Felsen eingeführt, die wie eingemeißelt wirkt. So ist es letztlich Bruegel, der sich als Erbauer des dargestellten Turmes einbringt und durch eine gemalte Gravur die künstlerische Darstellung des Sujets als eine solche dezidiert ausweist.
Dennis Jelonnek