„Zirkulierende Referenzen des Bildes“

Workshop der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik mit Helmut Lethen (Wien).

Berlin, 18. April 2013

Evidenz entstehe im Zwischenraum einer konstanten Pendelbewegung, so Helmut Lethen. Zwischen den Extremen der Transparentmachung, der minutiösen Analyse und Zergliederung eines Bildes und der Wahrung seiner Opazität, die seine Poetisierung und eine Form der Entfremdung bedinge und erzeuge, schwinge das Pendel unaufhörlich hin und her.

Entwickelt auf der Grundlage seines Aufsatzes „Migrant Mother im Zeitalter der Zirkulation“ erläuterte der Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen diese Überlegungen zum Phänomen bildlicher Evidenz am Beispiel von Dorothea Langes ikonischer Fotografie „Migrant Mother“ aus dem Jahr 1936. Die bekannte Fotografie, die Lange im Rahmen soziologischer Feldforschungen zur Dokumentation des Notstandes der Landbevölkerung in Folge der Weltwirtschaftskrise aufnahm, sollte mehrere „Karrieren“ durchlaufen, die sich aus immer neuen Verschiebungen des Präsentationskontextes, ihrer Aufladung mit Bedeutung und ihrer Entfremdung oder Identifikation mit der lange Zeit anonymen Frau und ihrer Kinder ergaben.

In diesem an seine Reproduzierbarkeit geknüpften Übersetzungsprozess steht die Fotografie der „Migrant Mother“ als Beispiel für die Funktionsweise kultureller Prozesse im Sinne Ludwig Jägers: So sei es die mehrfache Entfremdung – durch die Anonymisierung der abgebildeten Florence Owens Thompson, die Übersetzung in die Grauwerteskala der Fotografie und durch die distanzlose Nähe des Kameraobjektivs zum Körper der „Migrant Mother“ und ihrer Kinder – welche die Grundlage für die Mythisierung und Stilisierung des Bildes zur ‚Ikone’ schaffe und den Motor einer sich fortsetzenden Zirkulation unter immer neuen Vorzeichen darstelle.

Mit der Entdeckung weiterer Aufnahmen der Serie Langes kam es in den 1970er-Jahren dann zu einer paradoxen Verkehrung: hatte das Bild lange Zeit seine ikonische Wirkung aus seiner solitären Stellung bezogen, so erfuhr die restliche Serie nach ihrer späten Wiederentdeckung gerade durch die Vielfalt der gewählten Ausschnitte und Kompositionen den Status als vermeintlich roh, unmittelbar und damit evident.

Die beschriebenen Ausschläge des Pendels zwischen Transparenz und Opazität der Bilder, exemplarisch nachzuvollziehen an Dorothea Langes „Migrant Mother“ zeigten, so Lethen, dass es nicht das zum Kunstwerk enthobene Bild im Museum, sondern das Bild in seinen Handlungsräumen, seinen Verwendungszusammenhängen vermöge, Evidenz zu entfalten.

In der Diskussion, die vornehmlich um die Frage der Evidenzerzeugung im Medium der Fotografie kreiste, wurde offenbar, dass bei aller vermeintlichen Ursprünglichkeit des fotografischen Aktes gerade die Eigendynamik der Technik berücksichtigt werden müsse, die immer auch einen Modus der Distanzierung impliziere. Das Bild ist nicht das Phänomen selbst.

Henrike Eibelshäuser/Dennis Jelonnek

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