Screening und Workshop zum Film „All this can happen“ von Siobhan Davies und David Hinton, eine Veranstaltung der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik.
Konzept und Leitung: Friedrich Balke, Florence Freitag
Berlin, 11.-12.07.2014
1917, mitten im Ersten Weltkrieg, veröffentlicht Robert Walser seine lange Erzählung „Der Spaziergang“, die zum Thema hat, was Walser neben dem Schreiben von Romanen und Prosaminiaturen am liebsten tat: spazieren gehen und wandern, oft tage- und wochenlang.
Der Text notiert nicht nur, was dem Spaziergänger unterwegs zustößt, „jedes kleinste lebendige Ding“, sondern verwandelt den Spaziergang zugleich in ein Modell seriell-digressiven und protokollarischen Schreibens. Die britischen Regisseure Siobhan Davies und David Hinton, die durch ihre choreografischen Arbeiten und Tanzproduktionen für Bühne und Film bekannt geworden sind, haben in ihrem Film „All this can happen“ (2013) eine komplexe Dramatisierung der Erzählung Walsers vorgenommen. Im Workshop soll es darum gehen, die verschiedenen Dimensionen dieser filmischen Auseinandersetzung mit Walsers Spaziergang näher zu beleuchten. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich, ästhetisch gesehen, als komplexe audiovisuelle Montage aus rezitierten Textauszügen und visuellem Material, das ausschließlich aus Stummfilmarchiven stammt. Walsers Literatur teilt mit den neuen technischen Analogmedien das Interesse an der Darstellung und Problematisierung von Bewegungen aller Art, das sich im Text ebenso wie im Film die Form eines kinetischen Generalinventars annimmt.
Es bietet sich daher an, die Diskussion im Workshop auf die folgenden Punkte zu konzentrieren: Wie lässt sich das Verhältnis von literarischer und filmischer Bewegungsforschung aus wissenschaftshistorischer Sicht genauer bestimmen? So sehr Walser auch die Zweckfreiheit und Ziellosigkeit des Spazierengehens betont, so hebt er doch zugleich die epistemische Bedeutung der entstehenden literarischen Protokolle hervor, für die nichts zu geringfügig ist, um aufgezeichnet zu werden; umgekehrt verknüpfen Davies und Hinton das Bild des einsamen, ganz seinem Selbstgenuss hingegebenen Spaziergängers mit Schnipseln chronofotografischer Bewegungsstudien und dokumentieren so mit den vielfältigen Bewegungen, die sie sichtbar machen, zugleich die spezifisch medialen Bedingungen einer ‚Wissenschaft vom Gehen‘. Der Workshop hätte sich darüber hinaus mit der historischen Signatur von literarischem Text und filmischen Bildmaterial zu beschäftigen: Mit 1917 ist nicht nur die Zeit des Ersten Weltkriegs aufgerufen, auf die Walsers Text mehrfach anspielt. All this can happen setzt mit Bildmaterial ein, das die Szenen des Grabenkrieges und der Materialschlachten mit dem Raum der Klinik verbindet, in dem heimgekehrte, traumatisierte Soldaten unter äußerster Anstrengung wieder gehen zu lernen versuchen. Ein dritter Fragenkomplex schließlich betrifft die Bewegung, die in Walsers Text und im Film nicht nur auf vielfältige Weise thematisch wird, sondern den Modus der Verknüpfung von Wörtern und Sätzen auf der einen, von Einstellungen, Szenen und visuellen ‚Schnipseln‘ auf der anderen Seite bestimmt. Die seriell-digressive Logik bestimmt den literarischen Text ebenso wie den Film, aber sie prägt sich in beiden Medien höchst unterschiedlich aus: Der seitenlangen Anhäufung von „Alltäglichkeiten und Verkehrserscheinungen“ bei Walser steht eine filmische Choreografie gegenüber, die durch den beständigen Wechsel von Tempi und Rhythmen zwischen den Bildern und in den Bildern (splitscreens) dem Bewegtbild, das der Film immer schon ist, ganz neue Geschwindigkeiten zuführt.
Programm des Workshops „All this can happen“ (PDF, 78,18 KB)