Workshop der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik mit Ute Holl (Basel), Anton Kaes (Berkeley), Hito Steyerl (Berlin) und Eva Wilson (BildEvidenz).
Berlin, 06.-07.08.2013
Im Verlauf des ersten Workshoptages wurden unterschiedliche Filmbeispiele von Phantom Rides gezeigt, die sowohl aus der frühen Filmgeschichte als auch aus der rezenten Kunstproduktion stammten. Das besondere filmwissenschaftliche Interesse am Phantom Ride, der scheinbar geisterhaften Fahrt der Kamera auf einem bewegten Träger, gilt dabei der zweifachen Problematisierung der physischen Bewegung des Streifens einzelner Filmbilder einerseits, und der von diesem in der Projektion erzeugten Illusion von Bewegung andererseits. Unterschiedliche Aufnahmetechniken und Präsentationsformen wurden ebenso zur Diskussion gestellt wie die immersive und unheimliche Wirkung, die diese filmischen Rides auf den Rezipienten ausüben.
Das Spektrum der gezeigten Filmbeispiele reichte von dem frühen „View from an Engine Front – Barnstaple“ (1898), über die vor und nach dem Erdbeben von 1906 in San Francisco entstandenen Filme „Trip Down Market Street Before the Fire“ (1906) und „A Trip to Berkeley“ (1906), bis hin zu Oskar Fischingers „München-Berlin-Wanderung“ (1927), Werner Herzogs „La Soufrière“ (1977), einer undatierten Führerstandsmitfahrt in der Berliner S-Bahn und einer aktuellen Arbeit Simon Starlings in der Tate Britain, die eine Rekonstruktion und Synthese vergangener Ausstellungen in den Duveen Galleries unter dem Titel „Phantom Ride“ (2013) simuliert.
Im Mittelpunkt des zweiten Workshoptages stand die Diskussion dreier Filmbeispiele der anwesenden Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl, die sie selbst auswählte, vorführte und kommentierte. In chronologischer Folge wurden Ausschnitte aus „Die leere Mitte“ (1998), „Journal No. 1“ (2007) und „Adorno’s Grey“ (2012) gezeigt und hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarischen besprochen.
Während in Bezug auf das erste Beispiel „Die leere Mitte“ (1998) der Begriff des Palimpsests im Zentrum der Diskussion stand, mit dem Hito Steyerl ihre Arbeitsweise in Abgrenzung von einer historisch linearen Form der Geschichtsrekonstruktion beschreibt, indem sie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen an Orten des architektonischen und sozialen Wandels zeigt, stand im zweiten Beispiel „Journal No. 1“ (2007) die enge Beziehung von Filminhalt und Filmmedium im Mittelpunkt. Die Suche nach dem ersten in Sarajevo ausgestrahlten Nachrichtenfilm aus dem Jahr 1946 formuliert die doppelte Frage: Was passierte in diesem Film? Was passierte mit diesem Film? Die Rekonstruktion der Inhalte durch Zeitzeugen und Phantomzeichnungen erinnerter ausgestrahlter Szenen verband sich mit der Suche nach der materiellen Filmrolle, die ihrerseits eine historische Narration eröffnet, in der dem Archiv und dem Kriegsgeschehen zentrale Rollen zukommen.
Auch das dritte Beispiel, „Adorno’s Grey“ (2012) verband ein konkretes geschichtliches Ereignis mit der Suche nach Spuren dieses Geschehens. In diesem Fall ist es die von Restauratoren betriebene archäologische Suche nach der authentischen grauen Wandfarbe des Hörsaals der letzten Vorlesung Theodor W. Adornos, deren Fund jedoch letztlich ausbleiben sollte. Die abschließende Diskussion drehte sich daher um Evidenz als ein Phänomen, das wie die Wandfarbe im Hörsaal der Frankfurter Goethe-Universität nicht als Gegebenes vorzufinden, sondern stets erst herzustellen sei.
Dennis Jelonnek