Kolja Reichert

 Porträt Reindert Falkenburg

Kolja Reichert

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Kunstredakteur

Aufenthalt

Februar – März 2020

Forschungsprojekt

Wandel der gesellschaftlichen Rollen von Kunst in der Hyperkultur

Kunst galt lange als Außen des Kapitalismus: Sie diente angeblich keinen Zwecken als denen, die sie sich selbst gab, ihre Werte waren einzigartig, unvergleichlich und in nichts aufzurechnen. Das rechtfertigte ihre exorbitanten Preise, die als Sterne das Universum der handelbaren Waren schirmten. Inzwischen sind die Eigenschaften der Kunst ins Zentrum der Wertschöpfung gerückt: sowohl in der Aufwertung von Vermögenswerten durch Kultur, wie sie Luc Boltanski und Arnaud Esquerre in „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“ beschreiben, wie auch im Handel mit sozialer Anerkennung, wie ihn Andreas Reckwitz in „Gesellschaft der Singularitäten“ analysiert. Sowohl auf einer realökonomischen Ebene wie auf einer existenziellen zeigt sich die Konjunktur des Besonderen, Einzigartigen und Unkopierbaren. Was einst als Abweichung ausgegrenzt oder als herausragende Erfindung gefeiert wurde, ist zur sozialen Erwartung geworden: Es gilt weniger, der Norm zu entsprechen denn sich selbst als einzigartig hervorzubringen und diese Einzigartigkeit fortlaufend zu performen.
Im Ergebnis ist das Verhältnis von Betrachter und Betrachtetem instabil geworden. In der durch die Digitalisierung angeheizten „Hyperkultur“ (Reckwitz) verfügt jeder, wenn nicht über die gleichen Fähigkeiten, so doch meist über die gleichen Werkzeuge, die es erlauben, als Produzent wie als Kritikerin beim Kampf um kulturelle Werte und kulturelle Deutungshoheit mitzumachen. Darüberhinaus kann schlichtweg alles „kulturalisiert“ und damit Singularität werden, also Gegenstand und Resultat kultureller Auf- und Abwertungskämpfe. Während sich in der Folge die Symptome mehren, dass Kunst ihren Sonderstatus gegenüber anderen Bildern verliert, indem sie sich zunehmend an den Erwartungen und Empfindlichkeiten der Betrachter messen lassen muss, scheint sie zugleich immer weiter ins Leben auszugreifen. An die Stelle des Werks rückt das Selbst, an die der Werkform die Lebensform.
Während die Politik sich immer weiter kulturalisiert, verschwinden ästhetische Argumente aus der Kunstkritik, die zu Gesinnungskritik zu werden droht. Man könnte denken, Politik und Kultur tauschten die Plätze. Aber vielleicht verschmelzen Kultur, Politik und Ökonomie sogar zu etwas, das wir noch nicht kennen und das tief ins Existenzielle reicht: zu einem Medium, in dem die Polyvalenz der Kunst der Buchstäblichkeit weicht, in dem jeder Schritt überwacht wird und jederzeit der größte Kursverfall der eigenen Person droht. In diesem Medium stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt, Gesellschaft und Werk neu.

Forschungsschwerpunkte

  • Moderne und zeitgenössiche Kunst
  • Aufmerksamkeitsökonomie
  • Verhältnisse von Kunst, Ökonomie und Politik

Publikationen

„An Image Looking at Its Own Back: ‚Episode III‘ as a Self-Portrait of the Societal Space of the Viewer“, in: Anthony Downey: „Critique in Practice. Renzo Martens’ ‚Episode III: Enjoy Poverty‘“, Sternberg 2019

„6. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst: Kurzführer“, mit Kathrin Rhomberg (Hrsg.) u.a., Dumont 2010

Besprechungen und Essays für „Die Zeit“, „Der Tagesspiegel“, „Welt am Sonntag“, „Spike Art Quarterly“ „frieze d/e“ u.a.

Kontakt

Kolja Reichert

Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz

Animallee 10
14195 Berlin